Die vorliegende Arbeit knüpft daran an, geht aber noch einen Schritt weiter, insofern es ihr darum zu tun ist, die Gegenstandsorientierung nicht nur mit der Lernerorientierung, sondern mit der Kompetenzorientierung insgesamt zu versöhnen, und macht sich damit auf einen Weg, den nicht zuletzt Hellwig selbst viele Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen seiner Beiträge zu einer prozessorientierten Mediendidaktik und wohl unter dem Eindruck des oben genannten Paradigmenwechsels eingeschlagen und vorgezeichnet hat (vgl. Hellwig 2008).
Der Gegenstand meiner Studie, den ich für dieses literaturdidaktische Anliegen im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Spanischunterricht zum Ausgangspunkt nehme, ist die bisher für den Spanischunterricht wenig beachtete Gattung der Poesía Visual. Sie erfüllt die oben genannten Kriterien in besonderem Maße und kann einerseits mit Gienow/Hellwig als „bedeutungs- und belangvoller“ (ebd.) Lerngegenstand für den Spanischunterricht und andererseits mit Weinrich als „höher strukturiertes Gebilde“ (1983, 206), als verdichteter Text mit einem hohen Überschuss an impliziter Bedeutung eingestuft werden. Als Äquivalent zur Konkreten Poesie (die Weinrich selbst als potenziellen Gegenstand für den fremdsprachlichen Literaturunterricht ins Spiel brachte) können poemas visuales für den fremdsprachlichen Literaturunterricht allein durch ihre externe Kürze und Überdeterminiertheit in Betracht gezogen werden: Sie funktionieren mit nur sehr wenigen Wörtern, manchmal mit nur einem einzigen Wort, das zu einem Bildelement in Beziehung gesetzt wird. Darüber hinaus sind poemas visuales - und hier liegt das besondere didaktische Potenzial dieser Gattung - intermediale und hybride poetische Texte, bestehend aus Schrift und Bild. Was bedeutet, dass poetische Botschaften durch visuell-kommunikative Zeichen mitgestaltet werden. Das Bild ist somit im Zusammenspiel mit der Schrift als ein kommunikatives und zugleich poetisches Zeichen zu sehen.
Das Bild als konstitutives Element dieser hybriden literarischen Kurzgattung ist noch aus einem zweiten Grund relevant für die Wahl gerade dieses Gegenstandes für die vorliegende Studie. Im Zeitalter des sogenannten iconic turn (Boehm 1994)1 ist unser Alltag stärker denn je von Bildern geprägt. Aufgrund ihrer gattungsspezifischen Schrift-Bild-Kombination und ihrer Verbreitung im Internet handelt es sich bei der Poesía Visual somit um eine aktuelle poetische Gattung, die einen starken Bezug zur Erfahrungswelt von jugendlichen Schülerinnen und Schülern vorweist. Mit Bildern zu sprechen und Bilder zu lesen, ist den Jugendlichen von heute nicht fremd. Poemas visuales als Gegenstand des Spanischunterrichts aufzunehmen, bedeutet, Elemente der Bildsprache als Elemente einer poetisch-ästhetischen Sprache im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts thematisieren zu können und damit einen entscheidenden Beitrag zur Ausbildung und Förderung einer visual literacy zu leisten. Sie ermöglichen die Sensibilisierung für das ästhetische Lesen von ikonischen (und grafischen) Zeichen, die nach den Vorstellungen Weinrichs an die Notwendigkeit, die „Ästhetik des Alltags“ (Jakobson 1960) in den Unterricht zu holen, anknüpft.
In der vorliegenden Dissertation werden zum ersten Mal die Gattung der Poesía Visual und das visuelle kommunikative Zeichen als (fremd)sprachliches und poetisches Ausdrucksmittel aus didaktischer Perspektive untersucht. Sie ist folgerichtig im Spannungsfeld zwischen Literatur- und Bildwissenschaft einerseits und der fremdsprachlichen Literatur- und Bilddidaktik andererseits angesiedelt. Im Sinne der Gegenstandsorientierung macht sie es sich zunächst zur Aufgabe, die noch weitgehend unerforschte Gattung der Poesía Visual für den Spanischunterricht systematisch zu erschließen. Da es in der Hispanistik bisher nur wenige Untersuchungen zur Poesía Visual gibt, wird sie zunächst als Gegenstand in der spanischsprachigen Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte (TEIL I) beleuchtet. Die daraus resultierenden Erkenntnisse bilden die Voraussetzung für die in TEIL II erfolgende didaktisch-methodische Analyse der Gattung als Gegenstand des Spanischunterrichts.
Was ist überhaupt Poesía Visual? Wie lässt sich diese Gattung begrifflich fassen? Welche formalen Charakteristika weist sie auf? Und welche Typen von poemas visuales gibt es? Dies sind die Leitfragen, denen im ersten Kapitel von Teil I (Poesía Visual: Definition – Theorie – Typologie) nachgegangen wird. Anliegen und gleichermaßen Herausforderung des Kapitels ist es, eine Gattungsanalyse vorzulegen, die für den literaturwissenschaftlichen Forschungsstand in der Hispanistik repräsentativ und für die Spanischdidaktik relevant ist. So werden verschiedene Definitionen herausgearbeitet und verschiedene Typen von poemas visuales vorgestellt und analysiert.
Als Korpus diente eine Auswahl von über 300 poemas visuales , die in der akademischen Version der Dissertation als editorischer Teil in Form einer Anthologie von poemas visuales vorgelegt wurde und das Ziel verfolgte, einen repräsentativen Überblick über die aktuelle Poesía Visual zu geben. Es wurde auf eine möglichst breite Zusammenstellung von Gedichten und, damit verbunden, auf eine vielfältige Auswahl von Dichterinnen und Dichtern geachtet. In Anbetracht der kaum überblickbaren Fülle von veröffentlichten poemas in Zeitschriften und insbesondere im Internet wurde als zentrale Quellen auf bestimmte Einrichtungen, Veröffentlichungsorgane und Internetportale rekurriert. Da nicht alle spanischsprachigen visuell-poetischen Veröffentlichungen berücksichtigt werden konnten, wurde die Poesía Visual auf ihr Vorkommen auf der Iberischen Halbinsel beschränkt, was bedeutet, dass die ausgesuchten Quellen in Spanien verortet sind (im Fall des Internetportals wurde die Postadresse des Webmasters herangezogen). Die geografische Eingrenzung bezieht sich jedoch lediglich auf die Quellen und somit auf gewisse Kern- und Versammlungspunkte der visuell-poetischen Szene. Eine geografische Eingrenzung der Poesía Visual als Gattungsphänomen ist gänzlich unmöglich und im Übrigen auch ganz und gar nicht im Sinne der Poesía Visual, die sich als avantgardistische Kunst und daher in jeglicher Hinsicht als grenzenlose Gattung versteht (siehe Kapitel 1.3). Bei der Auswahl der Quellen, aus denen die poemas visuales geschöpft wurden, lag die höchste Priorität darin, eine authentische und mithin vielseitige Repräsentation der aktuellen Poesía Visual zu erlangen.
Kapitel 2 widmet sich der historischen Entwicklung der Poesía Visual, verfolgt also eine literaturgeschichtliche Fragestellung. In aktuellen deutschsprachigen Forschungsarbeiten ist zu beobachten, dass der Betrachtung der historischen Entwicklung dieser Gattung zunehmend Beachtung geschenkt wird (vgl. v. a. Dencker 2011; Ernst 2012). Dies gilt gleichermaßen für spanische Studien (vgl. v. a. Fernández Serrato 1995; Millán Domínguez 1999). Der Grund für das wachsende historische Forschungsinteresse dürfte nicht zuletzt daran liegen, die Visuelle Poesie überhaupt erst als eigenständige Gattung zu etablieren, ein Prozess, der noch nicht als abgeschlossen gelten kann.
Das wesentliche Ziel von TEIL II besteht indes darin, das fremdsprachendidaktische Potenzial von poemas visuales auszuloten und eine didaktisch-funktionale Typologie für diese Gattung vorzulegen.
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine multiperspektivische Didaktik, die einen künstlerisch-poetischen Gegenstand zum Thema hat. Weil die Poesía Visual ein dynamischer und facettenreicher Gegenstand ist, wird ein perspektivenreicher und interdisziplinärer Blick auf sie gerichtet, aus dem unterschiedliche Konsequenzen für eine didaktische Operationalisierung dieses Gegenstandes folgen. Der didaktischen Transformation liegen so zwei entscheidende konzeptuelle Vorüberlegungen zugrunde: Zum einen wird ein interdisziplinärer Zugang verfolgt, der literatur-, medien-, sprach- und kulturdidaktische Reflexionen integriert. Der hybride und intermediale Gegenstand Poesía Visual macht eindeutige Genrezuordnungen und Gattungsdefinitionen unmöglich, lässt sie bisweilen sogar absurd erscheinen. Die interdisziplinäre Orientierung erlaubt indes eine perspektivenreiche Annäherung an diesen vielschichtigen Gegenstand.
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