1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Das Gedicht trägt den lapidaren Titel „Andenken“. Andenken bedeutet ein ‚Denken an‘ Vergangenes, eine Erinnerung an, aber im Unterschied zu Erinnerung ein konzentriertes, gesammeltes ‚Denken an‘, eine bewusstere, ‚andächtige‘ Handlung. Nicht einfach ein ‚Nicht-vergessen-haben‘, ‚Sich-wieder-Erinnern‘. Das Andenken kommt dem Denken nahe, aber der Gegenstand dieses Denkens ist vorgegeben, es ist Vergangenes. Das Andenken ist ein Andenken aus einer zeitlichen Distanz. Es gilt meist Verstorbenen. Mit Anzeigen in Zeitungen soll das trauernde Andenken oder Gedenken an eine Person öffentlich bekundet werden.
Semantisch nahe ist Andenken auch dem Gedächtnis. Dieser Ausdruck kommt später im Gedicht vor. Abgeleitet ist er vom Partizip ‚gedacht‘ des Verbums ‚gedenken‘. Die Wörterbücher halten eine semantische Übereinstimmung von Andenken, Erinnern und Gedächtnis fest – wie z.B. in den Abendmahlsworten Lukas 22,19: „das tut zu meinem Gedächtnis“ – aber auch einen Unterschied: Gedächtnis kann auch das Erinnerungsvermögen bedeuten, ein ‚Gefäß‘ für das Erinnern, insofern auch für das Andenken. So nennen wir z.B. das Gedächtnis metaphorisch ein Sieb, reden wir von einem guten oder schlechten Gedächtnis. Der Ausdruck kann auch für eine lebhafte Vorstellung, eine Anschauung stehen. Ein Andenken kann auch ein Mittel des Andenkens bedeuten, dass man z.B. von einer Reise zurückbringt, ein Souvenir also.
Der Titel heißt nicht ‚Ein Andenken‘ oder ‚Das Andenken‘, sondern nur lapidar „Andenken“. Als Leser erwarten wir daher, dass es über ein bestimmtes Andenken hinaus um das Andenken als solches, um die Handlung des Andenkens als solche geht.
Der Nordost wehet,
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.
Das Wehen des Nordostwindes wird festgestellt von einem lyrischen Subjekt, das sich in ein besonderes, emotionales, geradezu persönliches Verhältnis zu diesem Wind setzt. Er ist ihm der liebste. Dieses Subjekt artikuliert sich selbstsicher und gelassen. Wahrnehmbar wird die unmittelbare Instanz einer bestimmten Person. Sie nennt sich nicht mit Namen, sagt auch nicht ‚ich‘, wohl ‚mir‘, exponiert sich aber im ganzen Gedicht in ihrer Subjektivität. In dieser Artikulation folgen auf die Anrede an den Wind die Evokation von Erinnerungen an Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux, der Ausdruck eigener Befindlichkeit und der eigenen Situation, Reflexionen, die ihren Ausgang von diesen Erinnerungen und der eigenen Situation nehmen, und am Ende eine selbstbewusste, sentenziöse Aussage.
Warum ist der Nordost diesem Subjekt der liebste unter den Winden? Der Nordost weht nach Südwesten, also von der schwäbischen Heimat des Verfassers aus gesehen, wie man vorausgreifend folgern kann, in die Richtung, in der Bordeaux und das Meer liegen. Dieser Wind verheißt feurigen Geist, dies zuerst, und gute Fahrt den Schiffern. Feurigen Geist, das bedeutet metaphorisch Begeisterung, Wagemut, Leidenschaft. Die alte Metapher konnte übrigens um 1800 vor dem Hintergrund der Lehre vom sublimen, als Materie gedachten ‚Lebensgeist‘ auch noch wörtlich verstanden werden. Der feurige Geist oder das „Feuer vom Himmel“ ist das, was dem Brief an den Freund Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 zufolge den abendländischen, nüchternen Deutschen mangelt. Im Rückblick auf seine Zeit in Bordeaux, auf die sich das Gedicht bezieht, schreibt Hölderlin in einem zweiten Brief an Böhlendorff, dass er in diesem südlichen Frankreich „das gewaltige Element, das Feuer des Himmels“ erfahren habe und die „Stille“ und das „Athletische“ der Menschen als Gegenreaktion auf dieses Feuer.3 Daher ist es gerade der Nordostwind, der „feurigen Geist“ verheißt.
Eröffnet wird mit diesen Zeilen eine Welt des Aufbruchs, der Ausfahrt und Fahrt wagemutiger Schiffer, eines Zusammenhangs von Natur, dem Wind, und dem Handeln der Menschen. Der Wind verheißt feurigen Geist, auf ihn sind die Schiffer angewiesen. Auf diese Natur, auf das von ihr angeregte und ermöglichte Handeln der Schiffer bezieht sich das Subjekt, emotional, beobachtend, reflektiert und reflektierend zugleich. Diesen Wind fordert das Subjekt „nun“ auf, zu gehen und die Schiffer zu grüßen.
Stilistisch fällt die Vokalfüllung in „wehet“ und „verheißet“ auf. Später dann: „hingehet“, „hinschauet“, „denket“, „ Hofe“, „wächset“, „beginnet“, „ausgehet“, „nehmet“, „bleibet“. Dies entspricht einem Gebrauch in der Literatursprache Ende des 18. Jahrhunderts, z.B. bei Klopstock oder in den Homer-Übersetzungen von Voß.4 Darin kann man aber auch, wie der Augsburger Brecht am Beispiel von Hölderlins Übersetzung der Antigone , einen schwäbischen Tonfall erkennen.5 Bei Klopstock finden sich auch Formen wie „ein edel Paar“ statt ‚ein edles Paar‘. Die apokopierten Ausdrücke „edel“, „Mühl“, „Erd“, „Spitz“, „Lieb“ sind Formen sowohl der dialektalen Umgangssprache wie der Literatursprache. Der umgangssprachlichen Syntax nähern sich auffällig die Verse „wo nicht die Nacht durchglänzen / Die Feiertage der Stadt, / Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.“ Eine antikische Aura umgibt in der vierten Strophe die Ausdrücke ‚der geflügelte Krieg‘, also, die Segel metaphorisch als Flügel verstanden, der Seekrieg mit Segelschiffen, und der ‚entlaubte Mast‘, ein Pleonasmus, der das Auf-sich-Bezogene, Asketische dieser Situation auf dem Meer herausstellt. Insofern blenden diese Stilmittel zwei sprachliche Register ineinander, ein ‚hohes‘ mit antiken Konnotationen und ein umgangssprachliches, ‚niedriges‘ Register.
Der Nordost ist der Wind, der von Nordosten nach Südwesten weht. Dieser Südwesten wird nun in den folgenden Zeilen lokalisiert. Es ist Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux. Es fällt auf, dass die Erinnerung sich nicht auf das Großstädtische oder den Hafen von Bordeaux richtet, sondern auf eine eher ländliche Szenerie: die Gärten, das scharfe, d.h. steil abfallende Ufer, der Bach, der Ulmwald, die Mühle, der Hof, der seidne Boden, die Stege, die Weinberge. Nach Jean-Pierre Lefebvre beziehen sich diese Angaben auf Lormont, damals ein Dorf am anderen, östlichen Ufer der Garonne.6
Geh aber nun und grüße
Die schöne Garonne
Und die Gärten von Bourdeaux
Dort, wo am scharfen Ufer
Hingehet der Steg und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln.
Das lyrische Subjekt fordert den Nordost auf „nun“ zu gehen und die „schöne Garonne“ und die „Gärten von Bourdeaux“ zu grüßen. Mit den „Gärten“ sind die Parks, die jardins publiques , in Bordeaux und wohl auch die Weingärten um Bordeaux gemeint. Die Konjunktion „aber“ in „Geh aber nun“ hat keine oder nur eine schwache adversative Bedeutung, markiert vielmehr, wie häufig in der Umgangssprache und bei Hölderlin, den Beginn einer neuen Sprechsequenz.
Ein besonderer Ort wird im Andenken evoziert, ein scharfes Ufer, an dem ein Steg hingeht, ein Bach, der tief in den Strom fällt, darüber ein Paar von Eichen und Silberpappeln. Eichen, Pappeln und Ulmen, sie werden in der nächsten Strophe genannt, werden auch in der Beschreibung einer Reise erwähnt, die der Bruder von Hölderlins Patron in Bordeaux, der hamburgische Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer, 1801 nach Bordeaux machte.7 Das lyrische Subjekt verfügt über eine genaue Ortskenntnis, besagen diese Angaben, es kennt Bordeaux aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben. Es war einmal da. Auf diesen ‚autobiographischen‘ Effekt kommt es auch an. Hier, im Gedicht, wird die Stadt auch mit dem älteren Namen Bourdeaux genannt (abgeleitet von lat. Burdigala), der Ende des 18. Jahrhunderts auch sonst noch verwendet werden konnte. Durch diesen Namen erhält die Stadt eine Aura des Alten, zugleich deutet das Subjekt ein vertieftes Wissen an, eine besondere Kenntnis der Stadt (in den Briefen schreibt Hölderlin ‚Bordeaux‘).
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