Große Werke der Literatur XIV
Günter Butzer / Hubert Zapf
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0001-0
Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanisch-kanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg.
Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literatur- auf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst – so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht.
Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen.
Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden.
In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind.
Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Nina Blagojevic, Jessica Friedline, Laura Fritz, Beate Greisel, Theresa Schwaiger und Andreas Tschierse für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben.
Augsburg, im Januar 2017 Günter Butzer und Hubert Zapf
Mechthild von Magdeburg
Das Fließende Licht der Gottheit
Freimut Löser
Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg gilt als herausragendes Werk der ‚deutschen Mystik‘. Es werden also Antworten auf folgende Fragen zu suchen sein: 1. Was ist ‚Mystik‘? 2. Wer war Mechthild von Magdeburg? 3. Was ist das ‚Fließende Licht der Gottheit‘?
Es kommt nicht von ungefähr, dass zurzeit – wenn man etwa an den Namen Kurt Flasch2 denkt – eine heftige Debatte stattfindet, z.B. ob Meister Eckhart, der große deutsche Prediger, Philosoph und Sprachschöpfer des Mittelalters, der gemeinhin als Mystiker geführt wurde und wird, überhaupt als Mystiker zu bezeichnen ist. Dabei zeigt sich auch und vor allem: Der Begriff ‚Mystik‘ ist schwer zu definieren. Hier kann nur ein vorsichtiger Definitionsversuch unternommen werden. Sicher ist: Er ist abgeleitet vom griech. mystikós ‚ ‚geheimnisvoll, geheim‘, und dieser Begriff wiederum hat etwas mit der Vorstellung geschlossener Augen zu tun. Man kann dem zweierlei entnehmen: Mystische Lehren können – vor den Blicken verborgen – Geheimlehren sein, und es geht der Mystik um die Durchdringung des Geheimen, Geheimnisvollen und Verborgenen. Dies geschieht – bildlich gesprochen – mit geschlossenen Augen, also in höchster Konzentration auf das Innere. Mystik wird weiter gemeinhin als unmittelbare und erlebnishafte Erfahrung des Göttlichen oder Transzendenten definiert. Dabei werden in der Regel das gewöhnliche Bewusstsein und die verstandesmäßige Erkenntnis überstiegen. Ziel der Mystik ist die Vereinigung, christlich als unio mystica gefasst, mit dem absoluten Seinsgrund. Mittel sind häufig Askese, Meditation und Kontemplation. Für den christlichen Bereich des Mittelalters kann Mystik etwa mit Thomas von Aquin oder Bonaventura als cognitio dei experimentalis definiert werden, d.h. also als erfahrungshafte Gotteserkenntnis. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Zu dem Phänomen, das man gemeinhin als mystisch zu fassen versucht, gehören einerseits unmittelbar erlebte oder von Gott gnadenhaft geschenkte Visionen, Auditionen, sensuelle Wahrnehmungen einerseits, auf der anderen Seite aber auch häufig die theoretisch-philosophische Reflexion entweder über Phänomene der Mystik oder über die Einung mit Gott. Man kann deshalb von verschiedenen Textsorten ausgehen, die sich in zwei Richtungen einteilen lassen, einmal in die praktische, sogenannte Erlebensmystik und andererseits in die spekulative, theoretisch-philosophisch-orientierte Mystik (so bei Eckhart). Als Literatur- und Textwissenschaftler haben wir es zudem immer mit Texten zu tun, d.h. mit inszenierter Wirklichkeit, die literaturimmanenten Gesetzen folgt.
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