Hermann Gätje / Sikander Singh
Identitätskonzepte in der Literatur
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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISSN 2512-8841
ISBN 978-3-7720-8722-6 (Print)
ISBN 978-3-7720-0162-8 (ePub)
Als Begriff wie als Diskurs wird Identität in der Gegenwart zunehmend einseitig vereinnahmt und (tages)politisch instrumentalisiert. Die daraus abgeleitete „Identitätspolitik“ gilt vielen mittlerweile als Chiffre für eine gesellschaftliche Polarisierung und argumentative Kompromisslosigkeit. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat sich in zahlreichen Schriften sachlich mit den gegenwärtigen sozialen Phänomenen beschäftigt, die unter dem Zeichen der Identitätsdebatte stehen:
Was das überhaupt heißt, Identität? Was Identität zunächst bezeichnet, ist das Selbstverstehen von Individuen. Also, wie sie sich selber verstehen, wie sie sich selber interpretieren, wie sie sich einordnen als XY.
Das hat auch immer so eine selbstreflexive Dimension. Man interpretiert sich auf eine bestimmte Art und Weise als ein Individuum oder als Teil einer Gruppe. Wir unterscheiden auch soziologisch personale Identität von kollektiver Identität. Also, Individuen verstehen sich selbst als Individuum. Das ist die personale Identität. Und dann kann es sein, dass sie sich auch als Teil einer bestimmten Gruppe wahrnehmen. Das wäre die kollektive Identität.1
Die Beiträge des vorliegenden Bandes perspektivieren vor diesem Hintergrund den Terminus im Hinblick auf seinen Gehalt und seine historischen Bedeutungsdimensionen. Der Fokus auf die Literatur ist hierfür in besonderer Weise geeignet, weil dieser seit dem Aufkommen national(staatlich)er Diskurse im 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Bestätigung von Identität zugefallen ist. Vor allem der Literatur mit regionalem Bezug kommt in diesem Prozess zentrale Bedeutung zu, aus der sich Stereotypen der Verengung und Trivialität, z.B. im Hinblick auf das Genre Heimatliteratur, entwickelt haben. Die aktuelle Literaturproduktion belegt, dass die politische Debatte nicht ohne Spuren geblieben ist. Unter den Neuerscheinungen finden sich signifikant häufig Texte, die sich thematisch auf identitätsstiftende Faktoren wie Geschlecht, Generation, Ethnie, soziale Schicht oder geographische Herkunft fokussieren.
Indem die Funktion der Konstitution wie der Stiftung von Identität durch die Literatur vergleichend und epochenübergreifend betrachtet wird, werden signifikante Aspekte und Tendenzen aktueller Diskussionen hinterfragt und vertieft: Wie verhalten sich regionale Identitätskonzepte mit geschlechts-, gruppen- oder generationsbezogenen Entwürfen, die sich in der Literatur nachweisen lassen? Im Hinblick auf die regionale Referenz stellt sich weitergehend die Frage, ob sich gleichermaßen antagonische und analoge Identitätsentwürfe wie „Europäer:in“ oder „Weltbürger:in“ mit der zunehmenden Globalisierung und kulturellen Vernetzung herausgebildet haben und sich in ein literarisches Programm fassen lassen?
Weil bereits der Begriff der Identität unscharf, vielschichtig und polyvalent ist, diskutieren die Beiträge des Bandes darüber hinaus Konzeptualisierungen und Diskursfelder von Identität im Werk einzelner Autorinnen und Autoren.
Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes im November 2019 nach Saarbrücken eingeladen hat. Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank.
Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.
Saarbrücken, im Sommer 2021
Hermann Gätje und Sikander Singh
I.
Akkumulative Identitätszuschreibungen in der Region: Die Literatur(en) der Böhmischen Länder als Paradigma1
Jörg Krappmann, Olomouc
Als Friedrich A. Kittler die Aufschreibesysteme mit einem Nachwort ausstattete, lagen die Auseinandersetzungen um die Anerkennung seines diskursanalytisch grundierten medientheoretischen Ansatzes bereits einige Zeit zurück.2 In diesem paratextuellen Statement blickt Kittler mit einigem Stolz auf das mittlerweile Erreichte zurück und spart – wie nicht anders zu erwarten – Seitenhiebe auf das (nicht nur) germanistische Establishment nicht aus. Nachbetrachtung und kritische Gegenwartsdiagnose gerinnen in der resümierenden Feststellung: „Der Glaube an unerschöpfliche Werke ist einfach die Unlust, neben heiligen Schriften auch ihre verstaubten Geschwister zur Hand zu nehmen“.3 Unlust wie Verstaubtheit lassen sich auch auf Umgang und Zustand der Regionalliteratur übertragen. Wurde doch die Region, gerne als Provinz bezeichnet, nur aufgesucht, um ihr vergessene Texte der deutschen Literatur zu entreißen, die selbstverständlich einem überregionalem Anspruch genügen müssen (Mecklenburg), oder um unter der Devise einer (angeblichen) Komplexitätsreduktion im begrenzten Raum (literatur-)soziologische Studien zu erstellen (von Heydebrand, Stüben), die weitaus mehr über die Produktionsverhältnisse aussagen als über die regionalliterarischen Texte selbst, die meist ungelesen blieben.4 In beiden Vorgehensweisen fand die Regionalliteratur als eigenständige literaturwissenschaftliche Einheit mit epistemischem Anspruch keine Anerkennung.
Um die Leistungsstärke regionalliterarischer Untersuchungen aufzuzeigen, die scheinbar feststehenden Wertungen und unterkomplexen Zuschreibungen entraten, werden im Folgenden Modellierungen von Künstleridentitäten in der Moderne anhand einiger Beispiele aus den Böhmischen Ländern aufgezeigt,5 in denen der Aufbau von Mehrfachidentitäten behandelt wird. Dass die Ansätze zu einem „regional turn der Literaturwissenschaft“ gerade in dieser Kulturregion ihren Ausgangspunkt nahmen,6 ist zum einen der Dichotomisierung zwischen der „Prager deutschen Literatur“ und der sogenannten sudetendeutschen Literatur geschuldet, die den Konstruktionscharakter von Ab- und Ausgrenzungsmodellen gegenüber regionalen Literaturphänomenen besonders deutlich hervortreten lässt. Die umfassende Debatte kann hier zwar nicht nochmals aufgerollt werden, aber so viel sei gesagt: Die Prager deutsche Literatur ist eine rein heuristische Kategorisierung, die der Germanist Eduard Goldstücker in den 1960er Jahren konzipierte, um innerhalb des kommunistischen Regimes der Tschechoslowakei überhaupt wieder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Literatur zu ermöglichen. Eine Ausweitung des Objektbereichs war angestrebt, konnte aber aufgrund der Zerschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 nicht mehr vollzogen werden. Die Prager deutsche Literatur, als deren Zentrum nun Franz Kafka gesehen wird, ist also ein ideologisch grundiertes Narrativ, das jedoch über eine enorme Reichweite innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft verfügt.7
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