Große Werke der Literatur XV
Herausgegeben von Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
Print-ISBN 978-3-7720-8705-9
ePub-ISBN 978-3-7720-0115-4
Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, italienischen, französischen, US-amerikanischen, estnischen und karibischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 16., 19. und 20. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg.
Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literatur- auf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst – so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht.
Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen.
Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden.
In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind.
Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern, der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Kathrin Windholz und Judith Kárpáty für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben.
Augsburg, im Juni 2020 Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf
Dietmar von Aist: Minnelieder
Klaus Wolf
I ‚Slafest du, friedel ziere?
wan weket uns leider schiere.
ein vogellin so wol getan,
daz ist der linden an daz zwi gegan.‘
II „Ich was vil sanfte entslafen,
nu rüfestu, kint, wafen.
lieb ane leit mag niht sin.
swaz du gebiutest, daz leiste ich, min friundin.“
III Diu frouwe begunde weinen:
‚du ritest hinnen und last mich einen.
wenne wilt du wider her zuo mir?
owe, du fürest mine fröide sant dir.‘1
I. ‚Schläfst du, lieber Freund? Man weckt uns leider bald. Ein Vöglein so schön, das ist auf der Linde Zweig geflogen.‘
II. Ich war so sanft eingeschlafen, nun rufst du, Kind, ‚wach auf!‘ Lieb ohne Leid kann nicht sein. Was du gebietest, das tue ich, meine Freundin.
III. Die Dame begann zu weinen. ‚Du reitest von hinnen und lässt mich allein. Wann wirst du wieder zu mir kommen? O weh! Du führst meine Freude mit dir.‘2
Der mittelhochdeutsche Text stammt ursprünglich aus dem umfänglichen Codex Manesse, der durch seine Autorenbilder berühmt ist.3 Die Übersetzung von Günther Schweikle präsentiert textnah das erste deutsche Tagelied überhaupt. Die Gattung Tagelied wiederum thematisiert das Erwachen des Liebespaares nach einer geheimen Liebesnacht. Dabei muss angemerkt werden, dass dieses Paar nicht verheiratet ist und eine Entdeckung fürchten muss. Deshalb entschwindet der Geliebte heimlich im Morgengrauen, denn er reitet von dannen beziehungsweise genauer ‚von hinnen‘, wie es übersetzt aus dem Mittelhochdeutschen heißt. Die Bezeichnung der Frau als mittelhochdeutsch vrouwe in Strophe 3 macht dabei klar, welchen Stand sie innehat, weil vrouwe mit ‚adelige Dame‘ zu übersetzen ist. Ansonsten reden sich die beiden Adeligen mit friedel beziehungsweise vriundin vertraut an. friedel bedeutet ‚Geliebter‘ und ist dasselbe Kosewort, das auch Kriemhild für Siegfried im Nibelungenlied benutzt.4 Die beiden Liebenden im Tagelied Dietmars werden dabei durch den Gesang eines kleinen Vogels geweckt. Dies entspricht natürlich der allzu bekannten weltliterarischen Frage am Morgen: War es die Nachtigall oder die Lerche? Wir befinden uns hier allerdings nicht im Verona Romeos und Julias, sondern nördlich der Alpen im deutschen Sprachraum. Und dieses mittelhochdeutsche Tagelied des Dietmar von Aist ist überhaupt der erste Vertreter seiner Gattung. Deshalb firmiert in einigen Handbüchern Dietmar von Aist als Erfinder des deutschen Tageliedes.5 Romanische Vorbilder werden bei Dietmar generell nicht angenommen, obwohl die Tageliedsituation natürlich in ganz Europa besungen wurde.
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