Gedanke die sint ledic fri
Das kann man folgendermaßen übersetzen: ‚Die Gedanken sind frei‘.20
Neben solchen im hohen Mittelalter durchaus originellen Versen gibt es bei Dietmar auch Langzeilenstrophen in der Tradition des Donauländischen Minnesangs, wie wir sie beim Dichter Kürenberger, aber auch im Nibelungenlied finden:
TON 121 erste Strophe
C |
B |
M |
Dietmar von Aist: Ton 1 (MF 32, 1) |
Dietmar von Aist |
Anonym |
I ‚Was ist für das truren guot, / das wib nach liebem manne hat? |
lieben G |
senen guot F ; lieber G |
gerne das min herze erkande, / wan es so betwungen stat.‘ |
|
wie gerne M ; wan daz iz so G |
also redte ein frouwe geneme, |
also redete ain vrouwe schöne F |
also reit ein vrowe schone F |
‚vil wol ichs an ein ende keme, |
köme M |
an ein ende ich des wol chöme F |
enwer diu huote. |
wan diu huote F |
wan diu huote F |
selten sin vergessen wirt in minem muote.‘ |
Dies heißt übersetzt, wobei ich mich auf den Text links beziehe, der dem Codex Manesse, hier gekennzeichnet mit dem Großbuchstaben C, entnommen ist:
„Was hilft gegen das Trauern, das eine Frau wegen ihres Geliebten empfindet?
Gerne würde das mein Herz verstehen, weil es so ganz und gar überwunden ist.“
So sprach eine schöne Dame:
„Sehr gerne würde ich damit an ein Ende kommen,
wenn nicht die Moralapostel wären.
Nie werde ich meinen Geliebten vergessen.“
Wer spricht hier? Hier ist die Minneklage einer adeligen Dame zu vernehmen, verfasst vom männlichen Dichter Dietmar von Aist. Interessant sind darüber hinaus aber die Varianten der anderen Handschriften. Die mittlere Spalte meiner eigenen Dietmar-Edition zeigt die Abweichungen der Stuttgarter Liederhandschrift, welche mit dem Großbuchstaben B markiert wird. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Handschrift B den Reim schöne auf köme aufweist . Dies ist ein unreiner Reim. Dagegen ist der Reim nach Handschrift C22 geneme auf keme perfekt klingend. Hier sollte man darüber diskutieren, wer für diese unterschiedlichen Reimformen eigentlich verantwortlich ist. Die traditionelle Minnesangexegese sieht hier überall nur Überlieferungsvarianz. Das heißt, die Abschreiber der Handschriften hätten noch etwas verändert. Nach traditioneller Sichtweise wäre der Halbreim in Handschrift B wohl typisch für den Donauländischen Minnesang, also für eine Frühstufe des Minnesangs. Halbreime hat auch der frühe Minnesänger Kürenberger.23 Der reine Reim in Handschrift C ginge dann auf die Abschreiber wohl in Zürich selbst zurück, welche den Text eigenständig verbesserten. Damit aber bürdet man einem Abschreiber eine enorme poetische Last auf. Bereits Günther Schweikle äußerte Zweifel an solch einem Konstrukt.24 Heute deutet man daher solche Varianten eher als Autorvarianten. Das heißt, Dietmar von Aist selbst ist verantwortlich für die verschiedenen Lesarten. In einer Frühphase hätte Dietmar dann den Halbreim gedichtet, wie wir ihn in der Handschrift B finden. In einer späteren Phase schuf er die Fassung mit reinem Reim, wie sie sich jetzt in Handschrift C findet. Damit aber blicken wir in die Dichterwerkstatt Dietmars. Er sitzt auf seiner österreichischen Burg und nimmt sich ein altes Gedicht wieder vor und verbessert den Reimklang. Ein Dichter, der lebenslang an seinem Werk feilt, ist in der Neugermanistik keine ungewöhnliche Vorstellung. So gibt es vom Gedicht römischer Brunnen des Conrad Ferdinand Meyer mehrere edierte Fassungen.25
Ich erkläre deshalb die verschiedenen Varianten von Ton I zu Autorfassungen, die also auf den Dichter Dietmar selbst zurückgehen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass es im Überlieferungsgang auch zu Überlieferungsvarianz durch Schreiberversehen kommen konnte. Dennoch ist der Lyriker Dietmar grundsätzlich methodisch nicht anders zu edieren als ein moderner Lyriker. Die hier gewählte Dokumentation der Autorvarianz mittels Synopse bewährt sich besonders bei der Fassung M, denn ein Blick auf Handschrift M, hinter der sich die berühmten Carmina Burana verbergen, die wohl in Neustift bei Brixen aufgezeichnet wurden,26 ergibt eine Lesart ganz eigener Prägung. In dieser beihnahe legendären Handschrift finden sich am Ende von lateinischen Liedern vereinzelt deutsche Strophen, freilich anonym. Die gängige Deutung besagt, dass mit dem deutschen Text die bekannte Melodie signalisiert wurde, auf die dann auch die lateinischen Strophen zu singen waren. Unsere Dietmar-Strophe erscheint in der Carmina Burana -Handschrift ebenso anonym, wie an anderer Stelle eine Strophe Walthers von der Vogelweide oder Heinrichs von Morungen.27 Der Text der anonymen Dietmarstrophen steht für eine andere Fassung, die für mich eine Autorfassung darstellt. Im ersten Vers der Strophe heißt es in der Fassung der Carmina Burana -Handschrift senen , also ‚Sehnsucht‘, statt truren im Sinne von ‚Trauer‘ in den Handschriften B und C. Während Sehnsucht noch Hoffnung zulässt, scheint die Trauer doch deutlich pessimistischer zu sein. Geht man von Autorvarianz aus, dann schuf Dietmar eine optimistischere und eine pessimistischere Version seiner Strophe.
Doch auch in der Metrik gibt es Autorvarianz. Formal liegt in Ton I eine Langzeilenstrophe mit Zäsur in der Mitte vor, wie man sie ganz ähnlich auch beim Nibelungenlied findet und ebenso beim Kürenberger oder Meinloh von Sevelingen, beide Vertreter des frühen oder Donauländischen Minnesangs.28 Wie der Kürenberger weist auch die Fassung B von Ton I vornehmlich Halbreime auf, während die Fassung C rein gereimt ist. Dennoch ist auch die Fassung C mit ihren Langzeilen als formal durchaus konservativ zu betrachten. Doch Dietmar von Aist hat auch Lieder in der moderneren Kanzonenform, so wie hier in Ton VIII29:
C |
B |
Dietmar von Aist: Ton VIII (MF 36,5) |
Reinmar der Alte |
C 19 |
B24 |
I |
Diu werlt noch ir alten sitte |
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an mir begat mit nide. |
niden G M |
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Si vert mir wunderliche mitte. |
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si wellent, daz ich mide |
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Den besten friunt, den ieman hat. |
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wie sol des iemer werden rat? |
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sol ich ir lange frömde sin, |
sol ich ime F vrömede M |
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ich weis wol, daz tuot ir we. |
tuot ime we F |
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daz ist diu meiste sorge min. |
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C20 |
B25 |
II |
Nieman vindet mich dar an |
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munstete mines muotes, |
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In si der eine, der ir gan |
ich si G |
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vil eren und guotes. |
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Si kann mir niemer werden leit, |
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des biutte ich mine sicherheit. |
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also trurig wart ich nie, |
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swenne ich die wolgetanen sach, |
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min senendes ungemach zergie. |
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Das heißt übersetzt:
Die Leute begegnen mir alter Gewohnheit gemäß |
noch immer mit Neid. |
Sie verfahren seltsam mit mir, |
sie wollen, dass ich |
die beste Geliebte meide, die man haben kann. |
Was kann man da machen? |
Bin ich lange von ihr entfernt, |
so tut ihr das, wie ich genau weiß, weh. |
Das ist meine größte Sorge. |
Keiner wird es herausfinden, dass ich |
davon abzubringen bin, |
der eine zu sein, der ihr |
große Ehre und Gutes gönnt. |
Sie kann mir niemals verleidet werden, |
das schwöre ich! |
Nie wurde ich so traurig, |
dass nicht, wann immer ich die Schöne sah, |
mein Liebeskummer verging.30 |
In meiner Edition sieht man links die Fassung nach Codex Manesse oder auch Handschrift C. Rechts sieht man hingegen eine Fassung nach der Stuttgarter Liederhandschrift mit der Sigle B. Während Codex Manesse das Lied Dietmar von Aist zuschreibt, steht es in Handschrift B unter dem Minnesänger Reinmar dem Alten. Hat nun Reinmar einfach Dietmar plagiiert? Nein, denn die erste Strophe bei Reinmar stellt die Verhältnisse auf den Kopf. In Vers 7 und Vers 8 finden man bei Reinmar die Pronomina ime also ‚ihm‘. Das heißt, beim Dichter Reinmar ist das lyrische Ich eine Frau. Bei Reinmar spricht in Strophe I eine Frau und in Strophe II ein Mann. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Wechsel. Reinmarkenner wissen außerdem, dass er ein gewisses Faible für Frauenstrophen hatte.31 Eine statistische Auswertung bei Dietmar von Aist zeigt dagegen, dass bei ihm Frauenstrophen, ganz im Gegensatz zu seinem donauländischen Dichterkollegen Kürenberger, eher selten sind. Die linke Spalte meiner Edition zeigt also bei Dietmar zwei Männerstrophen. Und die rechte Spalte zeigt bei Reinmar eine Frauenstrophe und eine Männerstrophe. Fest steht auch, dass der adelige Dietmar von Aist der ältere Minnesänger ist, während der eher niederständische und sich als Berufsdichter verdingende Reinmar im Vergleich zu Dietmar jünger war. Sein Beiname ‚der Alte‘ wird nur verwendet, um ihn von Sangspruchdichtern wie Reinmar von Zweter zu unterscheiden.32 Also noch einmal: Dietmar ist der Ältere, den Reinmar nicht plagiiert, sondern weiterdichtet. Modern gesprochen: Reinmar featuring Dietmar. Ein derartiges Verfahren kennt man bei Reinmar häufiger. Er benutzt beispielsweise viele Lieder des adeligen Minnesängers Heinrich von Rugge, die er weiterdichtet und unter seinem Namen laufen lässt.33 Ältere Editionen34 dagegen interpretieren einen derartigen Überlieferungsbefund dahingehend, dass nur eine einzige Fassung einem Dichter angehört, während die anderen Fassungen auf Schreiberversehen beruhen. Damit also wäre es ein Versehen in Handschrift B, dass dort diese beiden Strophen unter Reinmar stehen. Dies hätte gemäß traditioneller Auffassung ein nachlässiger Abschreiber verursacht. Die moderne Minnesangphilologie dagegen greift Mehrfachzuschreibungen in den Überlieferungen im Sinne kommunikativer und performativer Bedingungen auf.35 So ist etwa im Codex Manesse im Oeuvre Walthers von der Vogelweide über einem Waltherlied zu lesen:
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