Die allgemeine Kritik umgreift auch den Papst, was besonders deutlich wird, wenn man sich das eben zitierte Buch VI,21 (vgl. oben Anm. 30) noch einmal näher ansieht, denn die Krone der hl. Christenheit, die dort im Verfall geschildert wird, ist niemand anders als der Papst, was gerade die direkte Anrede am Ende von Buch VI,26 ( Sun babest, dis soltu vollebringen ) verdeutlicht. Mechthilds Kritik umgreift dann auch die Kirche als Ganzes (Buch V,34). Gleichzeitig scheut sie nicht davor zurück, ihren eigenen Herkunftsstand und den Adelsstand insgesamt zu kritisieren, etwa wenn sie sich gegen adelige Damen wendet. Die Kritik bleibt allerdings auch nicht einseitig. So ist festzustellen, dass Mechthild die Gefahren, die in den Augen der Kirche von einer kirchenfernen Mystik ausgehen, selbst erkennt und sich unmissverständlich gegen Strömungen ihrer Zeit ausspricht, die auch in ihren Augen häretisch sind: Das Buch VII mit dem Kapitel 47 ist ein sprechendes Beispiel dafür:
XLVII. Von einer súnde dú boͤse ist úber alle súnde
Ein súnde hab ich gehoͤret nemmen. Ich danken des gotte, das ich ir nit erkenne; si dunket mich und ist ob allen súnden boͤse, wan si ist der hohste ungeloͮbe. Ich bin ir von aller miner sele und von allem minem libe und von allen minen fúnf sinnen und von allem minem herzen gram. Ich danken des Jhesu Christo, dem lebendigen gotz sune, das si nie in min herze kam. Dise súnde ist nit von cristanen lúten ufkomen; der homuͤtige vient hat die einvaltigen lúte mit betrogen. Si wellent also helig sin, das si sich in die ewigen gotheit wellent ziehen und legen bi der ewigen heligen menscheit únsers herren Jhesu Christi. Wenne sich die vindent in bobenheit, so gebent si sich in den ewigen vlůch, si wellent doch die heiligosten sin; si habent iren spot uf gotz wort, die von der menscheit únsers herren sint gescriben.
Du allerarmester mensche, bekantestu werlich die ewigen gotheit, so were das unmugelich, du bekantest oͮch die ewigen menscheit, die da swebet in der ewigen gotheit. Du muͤstest oͮch bekennen den heligen geist, der da erlúhtet des cristan menschen herze und smeket in siner sele úber alle suͤssekeit und leret des menschen sinne úber alle meisterschaft, (154v) das er diemuͤtekliche da sprichet, das er vor gotte vollekomen nit mag wesen.16
Dass Mechthild hier sehr konkrete ‚Ketzereien‘ im Auge hat, macht der letzte Satz ihrer Kritik deutlich: Er richtet sich „gegen die Vorstellung von homines perfecti , als welche sich die Mitglieder ketzerischer Sekten, etwa der im Nördlinger Ries, verstanden.“17 Mechthild kritisiert also „Ketzerei“ ebenso scharf wie den Papst, die Beginen wie die Mitschwestern, den Adelsstand und sogar den Orden ihres Beichtigers. Von der eigenen Wahrheit zutiefst durchdrungen, setzt sie sich, bildlich gesprochen, zwischen alle Stühle. Um als Nicht-Theologe, als Laiin und als Frau (!) in dieser Zeit eine solch heftige Kritik in alle Richtungen wagen zu können, bedarf es einer ganz besonderen Legitimation. In der Tat hat sich Mechthild selbst verteidigt. Dies wird in Buch V,12 deutlich, wo sie zur ihrem Beichtvater spricht:
Meister Heinrich, úch wundert sumenlicher worten, die in disem bůche gescriben sint. Mich wundert, wie úch des wundern mag. Mer mich jamert des von herzen sere sid dem male, das ich súndig wip schriben můs, das ich die ware bekantnisse und die heligen erlichen anschowunge nieman mag geschriben sunder disú wort alleine; si dunken mich gegen der ewigen warheit alze kleine.
Ich vragete den ewigen meister, was er har zů spreche. Do antwúrt er alsus: »Vrage in, wie das geschach, das die aposteln kamen in also grosse kůnheit nach also grosser bloͤdekeit, do si enpfiengen den heligen geist. Vrage me, wa Moyses do was, do er niht wan got ansach. Vrage noch me, wa von das was, das Daniel in siner kintheit sprach.« 18
Mechthild beruft sich dabei nicht nur auf das Pfingstereignis der Apostel, auf die Begegnung Moses‘ mit Gott und die prophetische Gabe Daniels; sie nimmt diese Gabe für sich selbst in Anspruch und lässt Christus selbst sie ihr zusprechen. Ebenso deutlich wird diese Selbst-Legitimation im Prolog des Werkes, das die Autorschaft des Buches quasi für Gott selbst in Anspruch nimmt. Dabei handelt es sich um ein hochkomplexes Verfahren, das Burkhard Hasebrink, wenn er die Ungelehrte als Lehrerin der Gelehrten vorstellt, so erklärt:
„Die Individualität der Gotteserfahrung verleiht dem ‚Fließenden Licht der Gottheit‘ eine außerordentliche Autorität. Die Provokation, die das Buch offensichtlich schon zu Lebzeiten Mechthilds darstellte, verlangte nach Absicherung und einer grundsätzlichen Legitimation ‚ungelehrter‘, laikal-volkssprachiger Literatur. Im Zentrum dieser Legitimation steht das Konzept der doppelten Autorschaft […], das eine zweifache Legitimation erlaubt:
Das eine Begründungsverfahren zielt auf die religiöse Unterweisung der Magdeburger Begine durch die Dominikaner und ihren Anteil an der Entstehung des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘. Damit stehen die Aussagen des Buches unter der Autorität des gelehrten Diskurses, in dem, wie wir aus der monastischen Tradition wissen, auch das Konzept einer ‚heiligen Einfalt‘ des theologisch Ungelehrten seinen festen Platz hat. Die schlichte Opposition ‚gelehrt‘ versus ‚ungelehrt‘ greift daher zu kurz. Das zweite Begründungsverfahren zielt in der Tradition der Offenbarung auf die Inspiration der Sprecherin durch Gott selbst, so daß nach dieser Vorstellung das Gespräch der Seele mit dem geliebten Partner letzten Endes ein offenbares Selbstgespräch Gottes darstellt.“19
Schon Ruh hatte versucht, Mechthilds Legitimationsmuster durch das Modell der Inspiration zu erklären, indem er auf eine besonders klare Stelle aus Buch IV hinwies:
Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den oͮgen miner sele und hoͤre es mit den oren mines ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichnamen die kraft des heiligen geistes 20
Mechthild macht dabei die Gefahr, die von diesem ihrem Buch für sie selbst ausgeht ebenso deutlich, wie sie sich selbst und ihre Leser(innen) gleichzeitig der göttlichen Autorschaft versichert:
Ich wart vor disem buͦche gewarnet, und wart von menschen also gesaget: Woͤlte man es nit bewaren, da moͤhte ein brant úber varen. Do tet ich als von kinde han gepflegen; wenne ich betruͤbet ie wart, so muͦste ich ie betten. Do neigte ich mich zuͦ minem liebe und sprach: »Eya herre, nu bin ich betruͤbet dur din ere; sol ich nu ungetroͤstet von dir beliben, so hastu mich verleitet, wan du hies mich es selber schriben.« Do offenbarte sich got zehant miner trurigen sele und hielt dis buͦch in siner vordern hant und sprach: »Lieb minú, betruͤbe dich nicht ze verre, die warheit mag nieman verbrennen. Der es mir us miner hant sol nemen , der sol starker denne ich wesen. Das buͦch ist drivaltig und bezeichent alleine mich. Dis bermit, das hie umbe gat, bezeichent min reine, wisse, gerehte menschheit, die dur dich den tot leit. Dú wort bezeichent mine wunderliche gotheit; dú vliessent von stunde ze stunde in dine sele us von minem goͤtlichen munde […]« .21
Damit erscheint Mechthilds Buch als Gottes Buch, ihre Worte erscheinen als seine Worte. Und das Buch hat an vielen Stellen eine sprachliche Struktur, die die sprechende Instanz (Gott, Seele, „Mechthild“?) nicht klar erkennen lässt. So erscheint die Frage, wer in diesem Buch eigentlich spricht, als zentrale Frage des gesamten Werkes, in der Forschung heftig diskutiert. Diese Offenheit der Sprecherinstanz im Text findet in der mittelalterlichen Überlieferung des Textes eine Entsprechung. Dies zeigt sich, wenn man die Widmung betrachtet, mit der die Einsiedler Handschrift des Textes verschickt worden war:
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