Die Perikope fügt sich sinnvoll in den Kontext des Anfangs des Markusevangeliums ein. Die Stelle im Evangelium, an der die Szene jetzt steht, lässt sich nämlich gut begründen: Die Doppelperikope Mk 1,9–13 repräsentiert eine Legitimationserzählung für den Vollmachtsanspruch Jesu. Seine Identität als endzeitlicher, mit dem Geist Gottes ausgerüsteter Übermittler der Königsherrschaft Gottes wird darin anschaulich. Man könnte die Tauf- wie die Versuchungsepisode, die eine Sinneinheit bilden, in einer gemeinsamen Textgattung zusammenfassen und diese sachlich angemessen als eine „Berufungsgeschichte sui generis“ bezeichnen. Der Zusatz „sui generis“ erscheint nötig, da die Vollmacht Jesu zwar einerseits auf das Erwählungshandeln Gottes zurückgeführt wird,17 aber andererseits das für die Prophetenbeauftragung konstitutive, göttliche Sendungswort fehlt.18
Die in Mk 1,9–13 geschilderte Handlung von Taufe und Versuchung ist gedeutetes Geschehen: Die neue Existenz Jesu bleibt den ihn umgebenden Menschen allerdings verborgen; selbst der Täufer, der dem Ereignis buchstäblich noch am nächsten steht, ist bloße „Staffage“. Es gibt keine Augen- und Ohrenzeugen für die Vision und Audition Jesu in der Taufszene (vgl. Mk 1,10: εἶδεν; vgl. Mk 1,11: ἐγένετο: Der Konnex mit dem vorausgehenden Lexem εἶδεν zeigt deutlich, dass Jesus der ausschließliche Empfänger der Vision ist), und beim Wüstenaufenthalt ist es evident, dass Jesus allein ist, als der Satan an ihn herantritt und die wilden Tiere und die Engel bei ihm sind. Geteilt wird die Offenlegung der Gottessohnschaft Jesu ausschließlich mit dem Leser des Buches; für die Menschen in der Szene bleibt Jesu messianische Identität weiterhin zweifelhaft. Sie kann nur – wie der weitere Weg Jesu zeigen wird – im Glauben, im Bekenntnis erfasst werden. Das Moment des sogenannten „Messiasgeheimnisses“ scheint damit gleich mit dem ersten Auftreten Jesu im Evangelium auf. Enthüllung und Verhüllung sind also die Aspekte, die das Wesen Jesu als den „Christos“ oder „Christus“ (den „Gesalbten“, den „Messias“) auszeichnen, und die mit Gottes unergründlichem Sein, das durch die Verbundenheit von Immanenz und Transzendenz charakterisiert ist, korrespondieren. Hierin kommt das wahre Wesen Jesu als Sohn Gottes zum Ausdruck. Wie JHWH ist auch Jesus Christus geheimnisvoll. Ganz offenbar wird seine wahre Identität jedoch erst in Kreuz (vgl. Mk 15,33–47) und Auferstehung (vgl. Mk 16,1–8). Allerdings ist diese Offenbarung auch dort zunächst nur auf einen kleinen Kreis Eingeweihter beschränkt – nämlich auf die Frauen und vor allem auf die Jünger. Anfang und Ende des Evangeliums verbinden sich auf diese Weise.
Die kurze Tauf- und Versuchungsszene Mk 1,9–13 gehört deswegen zu den eindrucksvollsten Beispielen für das im Markusevangelium häufig verwendete Stilmittel der Intratextualität , das die hermeneutische Beziehung zwischen den Einzeltexten und dem Gesamttext stiftet und so die markinische „Relecture“ begründet. Die Episode Mk 1,9–13 weist damit voraus auf das letzte Kapitel der Schrift. Sie geht aber gleichermaßen zurück auf den eröffnenden Vers des ersten Kapitels, der mit dem Begriff „Evangelium“ einerseits und der christologischen Titulatur „Sohn Gottes“19 andererseits die Botschaft Gottes mit dem Botschafter Gottes verbindet und dadurch Jesu „wahres Ich“ deutet: Der dort von der Stimme des Erzählers benannte „Gottessohn“ (vgl. υἱός θεοῦ) wird in Mk 1,11 von der Himmelsstimme als „geliebter Sohn“ (ὁ υἱός […] ὁ ἀγαπητός) bezeichnet. Sprachlich unterstreicht der die Taufszene rahmende feierlich-hoheitliche Terminus ἐγένετο in Mk 1,9 und Mk 1,11 die göttliche, geistgewirkte Bevollmächtigung und damit die rechtmäßige Vollmacht Jesu. Darüber hinaus nimmt das Motiv des „Evangeliums“ das Summarium der Gottesreichspredigt Jesu in Mk 1,14–15 vorweg.
Die Szene Mk 1,2–8 bezieht die Personen und ihre Handlung auf die unmittelbar folgende Tauf- und Versuchungserzählung: Zum einen wird Johannes der Täufer (vgl. Mk 1,4. 6. 9) mit Jesus von Nazaret (vgl. Mk 1,9) verbunden , die vergangene (vgl. den Aorist ἐβάπτισα – vgl. Mk 1,8a) Taufe „mit Wasser“ (ὕδατι – vgl. Mk 1,8a; vgl. das Heraussteigen Jesu aus dem Wasser in Mk 1,10) durch Johannes und die zukünftige (vgl. die Futurform βαπτίσει – vgl. Mk 1,8b; ὀπίσω μου – vgl. Mk 1,7b) Taufe „mit dem Heiligen Geist“ (ἐν πνεύματι ἁγιῳ – vgl. Mk 1,8b; vgl. die Herabkunft des Geistes in Mk 1,10) durch Jesus werden einander gegenübergestellt. Zum zweiten ist es hier in Mk 1,2–8 die Himmelsstimme, die den Täufer zum letzten „Boten“ (ἄγγελος – vgl. Mk 1,2b)20 in der Zeit – im alten Äon – und damit zum Vorläufer des κύριος – des „Herrn“ – bestimmt, während dort in Mk 1,9–11 durch die gleiche himmlische Stimme Jesus zum „Sohn Gottes“ in der Endzeit – im neuen Äon – ausgerufen wird. Die Perikopen Mk 1,2–8 und Mk 1,9–13 zeigen somit den Aufbau einer Klimax: In ihrer Aussage stehen sie im Verhältnis von Verheißung (Johannes der Täufer, Bote / Prophet, Wassertaufe) und Erfüllung (Jesus von Nazaret, Herr / Messias, Geisttaufe) , von menschlich-prophetischem Handeln und göttlich-messianischem Tun (vgl. Mk 1,7b: „der stärker ist als ich“ – ὁ ἰσχυρότερός μου; vgl. Mk 1,7c: οὗ οὐκ εἰμὶ ἱκανὸς κύψας λῦσαι τὸν ἱμάντα τῶν ὑποδημάτων αὐτοῦ). Die Abschnitte Mk 1,1 – der Titel des Markusevangeliums –, Mk 1,2–8 – die „Täuferperikope“ – und Mk 1,14–15 – die „Predigtperikope“ – bilden somit den erzählerischen Rahmen für die Stelle Mk 1,9–13. Alle genannten Textstücke repräsentieren die größere Erzähleinheit Mk 1,1–1521 – den „großen Markusprolog“ –, der die ἀρχή der Geschichte Jesu in ihrem dargestellten zweifachen Bedeutungsspektrum schildert. So enthält dieser semantisch komplexe Textabschnitt die Stichwortverbindung: „Gott“, „Sohn Gottes“, „Bote“, „Verkündigung“, „Johannes der Täufer“, „Jesus von Nazaret“, „Geist Gottes“, „Evangelium Gottes“ und „Königsherrschaft Gottes“, die die offenbarungs- und schöpfungstheologischen sowie pneumatologisch-christologischen Aussagen des gesamten Markusevangeliums in nuce anklingen lässt.
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