Titelseite Stefan Zweig Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam Biographie Ich versuchte zu erfahren, ob Erasmus von Rotterdam bei jener Partei sei. Aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir: »Erasmus est homo pro se« (Erasmus steht immer für sich allein). Epistolae obscurorum virorum, 1515 Erasmus von Rotterdam (Hans Holbein d. J.)
Sendung und Lebenssinn
Blick in die Zeit
Dunkle Jugend
Bildnis
Meisterjahre
Größe und Grenzen des Humanismus
Der große Gegner
Der Kampf um die Unabhängigkeit
Die große Auseinandersetzung
Das Ende
Das Vermächtnis des Erasmus
Impressum
Stefan Zweig
Triumph und Tragik
des
Erasmus von Rotterdam
Biographie
Ich versuchte zu erfahren, ob Erasmus von Rotterdam bei jener Partei sei. Aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir: »Erasmus est homo pro se« (Erasmus steht immer für sich allein).
Epistolae obscurorum virorum, 1515
Erasmus von Rotterdam
(Hans Holbein d. J.)
Erasmus von Rotterdam, einstmals der größte und leuchtendste Ruhm seines Jahrhunderts, ist heute, leugnen wir es nicht, kaum mehr als ein Name. Seine unzählbaren Werke, verfaßt in einer vergessenen, übernationalen Sprache, dem humanistischen Latein, schlafen unaufgestört in den Bibliotheken; kaum ein einziges der einstmals weltberühmten spricht noch herüber in unsere Zeit. Auch seine persönliche Gestalt ist, weil schwer faßbar und in Zwischenlichtern und Widersprüchen schillernd, von den kräftigeren und heftigeren Figuren der anderen Weltreformatoren stark verschattet worden und von seinem privaten Leben wenig Unterhaltsames zu vermelden: ein Mensch der Stille und unablässigen Arbeit erschafft sich selten eine sinnliche Biographie. Aber sogar seine eigentliche Tat ist dem Gegenwartsbewußtsein verschüttet und verborgen wie immer der Grundstein unter dem schon aufgeführten Gebäude. Deutlich und zusammenfassend sei darum vorangesprochen, was uns Erasmus von Rotterdam, den großen Vergessenen, heute noch und gerade heute teuer macht – daß er unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewußte Europäer gewesen, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals. Und daß er überdies ein Besiegter blieb in seinem Kampf um eine gerechtere, einverständlichere Gestaltung unserer geistigen Welt, dies sein tragisches Schicksal verbindet ihn nur noch inniger unserem brüderlichen Gefühl. Erasmus hat viele Dinge geliebt, die wir lieben, die Dichtung und die Philosophie, die Bücher und die Kunstwerke, die Sprachen und die Völker, und ohne Unterschied zwischen ihnen allen die ganze Menschheit um der Aufgabe höherer Versittlichung willen. Und er hat nur ein Ding auf Erden wahrhaft als den Widergeist der Vernunft gehaßt: den Fanatismus. Selber der unfanatischeste aller Menschen, ein Geist vielleicht nicht höchsten Ranges, aber weitesten Wissens, ein Herz nicht gerade rauschender Güte, aber rechtschaffenen Wohlwollens, erblickte Erasmus in jeder Form von Gesinnungsunduldsamkeit das Erbübel unserer Welt. Seiner Überzeugung nach wären beinahe alle Konflikte zwischen Menschen und Völkern durch gegenseitige Nachgiebigkeit gewaltlos zu schlichten, weil alle doch in der Domäne des Menschlichen liegen; fast ein jeder Widerstreit könnte vergleichsweise ausgetragen werden, überspannten nicht immer die Treiber und Übertreiber den kriegerischen Bogen. Darum bekämpfte Erasmus jedweden Fanatismus, ob auf religiösem, ob auf nationalem oder weltanschaulichem Gebiete, als den gebornen und geschwornen Zerstörer jeder Verständigung, er haßte sie alle, die Halsstarrigen und Denkeinseitigen, ob im Priestergewand oder Professorentalar, die Scheuklappendenker und Zeloten jeder Klasse und Rasse, die allorts für ihre eigene Meinung Kadavergehorsam verlangen und jede andere Anschauung verächtlich Ketzerei nennen oder Schurkerei. So wie er selbst niemandem seine eigenen Anschauungen aufzwingen wollte, so leistete er entschlossenen Widerstand, irgendein religiöses oder politisches Bekenntnis sich aufnötigen zu lassen. Selbständigkeit im Denken war ihm eine Selbstverständlichkeit, und immer sah dieser freie Geist eine Verkümmerung der göttlichen Vielfalt der Welt darin, wenn einer, ob auf der Kanzel oder auf dem Katheder, aufstand und von seiner eigenen persönlichen Wahrheit wie von einer Botschaft redete, die Gott ihm und ihm allein ins Ohr gesprochen. Mit aller Kraft seiner funkelnden und schlagenden Intelligenz bekämpfte er darum ein Leben lang auf allen Gebieten die rechthaberischen Fanatiker ihres eigenen Wahnes – und nur in ganz seltenen glücklichen Stunden lächelte er über sie. In solchen milderen Momenten erschien ihm der engstirnige Fanatismus nur als bedauernswerte Borniertheit des Geistes, als eine der unzähligen Formen der »Stultitia«, deren tausend Abarten und Spielarten er in seinem »Lob der Narrheit« so ergötzlich klassifizierte und karikierte. Als der wahrhaft und vorurteilslos Gerechte verstand und bemitleidete er sogar seinen erbittertsten Feind. Aber im tiefsten hat Erasmus immer gewußt, daß dieser Unheilgeist der menschlichen Natur, daß der Fanatismus ihm seine eigene mildere Welt und sein Leben zerstören werde.
Denn des Erasmus Sendung und Lebenssinn war die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität. Er war geboren als eine bindende oder, um mit Goethe zu sprechen, der ihm ähnlich war in der Ablehnung alles Extremen, eine »kommunikative Natur«. Jede gewaltsame Umwälzung, jeder »tumultus«, jeder trübe Massenzank widerstrebte für sein Gefühl dem klaren Wesen der Weltvernunft, der er als treuer und stiller Bote sich verpflichtet fühlte, und insbesondere der Krieg schien ihm, weil die gröbste und gewalttätigste Form der Austragung inneren Gegensatzes, unvereinbar mit einer moralisch denkenden Menschheit. Die seltene Kunst, Konflikte abzuschwächen durch gütiges Begreifen, Dumpfes zu klären, Verworrenes zu schlichten, Zerrissenes neu zu verweben und dem Abgesonderten höheren gemeinsamen Bezug zu geben, war die eigentliche Kraft seines geduldigen Genies, und mit Dankbarkeit nannten die Zeitgenossen diesen vielfach wirkenden Willen zur Verständigung schlechthin »das Erasmische«. Diesem »Erasmischen« wollte dieser eine Mann die Welt gewinnen. Weil er in sich selbst alle Formen des Schöpferischen vereinte, in einem Dichter, Philolog, Theolog und Pädagog, hielt er im ganzen Weltraum eine Bindung auch des scheinbar Unversöhnlichen für möglich; keine Sphäre blieb seiner vermittelnden Kunst unerreichbar oder fremd. Für Erasmus bestand kein moralischer, kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Jesus und Sokrates, zwischen christlicher Lehre und antikischer Weisheit, zwischen Frömmigkeit und Sittlichkeit. Er nahm die Heiden, er, der geweihte Priester, im Sinne der Toleranz in sein geistiges Himmelreich und stellte sie brüderlich zu den Kirchenvätern; Philosophie war ihm eine andere und ebenso reine Form des Gottsuchens wie die Theologie, zum christlichen Himmel sah er nicht minder gläubig empor wie dankbar zu dem griechischen Olymp. Die Renaissance mit ihrem sinnlich frohen Überschwang, sie erschien ihm nicht wie Calvin und den anderen Zeloten als die Feindin der Reformation, sondern als ihre freiere Schwester. Er anerkannte, seßhaft in keinem Lande und heimisch in allen, der erste bewußte Kosmopolit und Europäer, keinerlei Überlegenheit einer Nation über die andere, und weil er sein Herz erzogen hatte, die Völker einzig zu werten nach ihren edelsten und geformtesten Geistern, nach ihrer Elite, so dünkten sie ihn alle liebenswert.
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