Stefan Rogal
Ganz und gar Subjektives
Zeitungsartikel 2014 bis 2020
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Stefan Rogal Ganz und gar Subjektives Zeitungsartikel 2014 bis 2020 Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorwort Vorwort Die Geschichte des Erwachsenen besteht aus ein paar Fußnoten zu seiner Kindheit. Grund genug, in die eigene Vergangenheit einzutauchen und sich an Orte, Begegnungen, Gedanken wie Gefühle aus den Siebziger Jahren zu erinnern: Kindergartenerlebnisse, Plätze paradiesischer Kinderspiele, liebevolle Beziehungen zu ganz besonderen Lehrerinnen und Lehrern, Schulerfahrungen, die Radfahrprüfung, Kaufhaus- oder Schwimmbadbesuche liegen zum Teil fünfzig Jahre zurück, sind jedoch so tief zum Kern der eigenen Existenz geworden, als wäre das alles eben erst gewesen. Die Retrospektive vermischt Reales mit Subjektivem, das Bemühen um eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe mit unvermeidbaren Erinnerungslücken, individuellen Wahrnehmungen und Verklärungen. Mag die eine oder der andere Lesende sich durch diese Reminiszenzen zu Blicken in die eigene Kindheit und Jugend animiert fühlen …
Von Weinlaub umrankt
Das Hauptbad
Diese Frau war Lehrerin
Vom alten Schlossturm still begleitet
Erinnerungen an einen verschwundenen Ort
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Die gestellte Aufgabe
Nicht Santa Monica
Nie bis ganz zum Ende
Nachmittags in der Stadt
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Die Geschichte des Erwachsenen besteht aus ein paar Fußnoten zu seiner Kindheit.
Grund genug, in die eigene Vergangenheit einzutauchen und sich an Orte, Begegnungen, Gedanken wie Gefühle aus den Siebziger Jahren zu erinnern: Kindergartenerlebnisse, Plätze paradiesischer Kinderspiele, liebevolle Beziehungen zu ganz besonderen Lehrerinnen und Lehrern, Schulerfahrungen, die Radfahrprüfung, Kaufhaus- oder Schwimmbadbesuche liegen zum Teil fünfzig Jahre zurück, sind jedoch so tief zum Kern der eigenen Existenz geworden, als wäre das alles eben erst gewesen.
Die Retrospektive vermischt Reales mit Subjektivem, das Bemühen um eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe mit unvermeidbaren Erinnerungslücken, individuellen Wahrnehmungen und Verklärungen.
Mag die eine oder der andere Lesende sich durch diese Reminiszenzen zu Blicken in die eigene Kindheit und Jugend animiert fühlen …
Eine halbe Stunde an der Schloss-Schule
Gab es die damals eigentlich schon? Wohl nicht. Und wenn doch, dann hätten wir uns nicht darauf gesetzt. Die Bank, auf der ich sitze, steht unter einem der drei großen Bäume auf dem Hof der Schlossschule in Borbeck. Den Namen Schlossschule schrieb man vor fünfundvierzig Jahren auch noch anders. Zudem war ich ja gar nicht auf dieser evangelischen Schule, sondern auf der Franziskusschule, die sich mit der evangelischen ein Gebäude teilen musste. Ein schönes Haus, das heute Nachmittag ganz friedlich daliegt. Der Schulhof ist durch das Haupthaus mit seinen eigenwilligen quadratischen Seitengebäuden völlig von der Straße abgeschirmt. Die Pavillons auf der linken und die Pausenhalle auf der rechten Seite schaffen einen geschützten und von viel Grün ergänzten Raum, der nur nach Norden hin offen ist. Damals in den Pausen, an klaren Wintertagen, konnten wir von unserem Schulhof aus weit schauen und mein Fernweh erwachte jedes Mal. Heute, an diesem Sommernachmittag, ragen nur ein paar hohe Schornsteine über das dichte Grün. Am hinteren Pavillon haben bereits die Abrissarbeiten begonnen. Er steht schon nur noch als Gerippe da. Hoffentlich werden die vorderen nicht auch noch abgerissen; dann wäre die besondere Atmosphäre dieses geschützten und doch offenen Raumes unwiederbringlich zerstört. In dem dichten Grün hinter den Pavillons haben wir damals Seidenraupen beobachtet. Auf dem Hof fanden Schulfeste statt. An der Seitenwand des Gebäudes haben wir uns nach dem Schellen – früher schellte es noch und gongte nicht etwa – in Zweierreihen aufgestellt. Die Pausenhalle weckt keine schönen Erinnerungen in mir, denn immer, wenn wir uns dort aufhielten, regnete es. An der linken Seite der Pausenhalle liegen die Toiletten: rechts die rote Tür und links die blaue. War ich in den vier Jahren jemals auf dieser Toilette? Ich kann mich nicht erinnern. Die drei Fenster unseres Klassenzimmers sind, wie die große Fassade, von Weinlaub umrankt. Was für ein schönes Bild. Unser Klassenraum lag in der Mitte des Erdgeschosses, direkt gegenüber dem Gang zum Zimmer der Rektorin Frau Kuckuck. Sie war unsere Klassenlehrerin. Sie hat für ihre Schüler und ihre Schule gelebt. Diese begnadete, charismatische Lehrerin hat uns die Welt erschlossen und uns so unsagbar viel mit auf den Lebensweg gegeben; Kraft, von der ich bis heute zehre. Ein Gefühl der tiefen Dankbarkeit und Liebe überwältigt mich. Mir kommen fast die Tränen. – Etwas unterhalb der Pausenhalle liegt die Turnhalle. Obwohl ich nie sportlich war und es bis heute nicht bin, hat damals sogar der Sportunterricht Spaß gemacht. Wir achtunddreißig Kinder haben hier vier schöne, sinnvolle, weitestgehend unbeschwerte Jahre verlebt. Ob die heutigen Kinder das auch einmal von ihrer Schulzeit werden sagen können? Ich hab da meine Zweifel. Der Schulhof ist zum Spielen freigegeben. Es ist kurz nach vier; die Sonne scheint. Eigentlich müssten hier doch Kinder spielen. Aber es ist keines da. Warum nicht? Wo sind die alle? Ist es ihnen zu langweilig, an diesem herrlichen warmen Sommernachmittag draußen zu spielen, oder ihren Eltern zu gefährlich? – Die halbe Stunde ist längst um, aber ich sitze noch eine gute, weitere Stunde hier und erinnere mich an eine Zeit, in der alles so „normal“ war, so einfach und nachvollziehbar, fast natürlich; an eine schöne Zeit.
(aus: BORBECKER NACHRICHTEN, Nr. 32, 8. August 2014, S. 3)
– ein Relikt von vorgestern
Mein Vater, Alfred Rogal, hat über vierzig Jahre im Bäderamt als Installateur gearbeitet. Ich genoss dadurch freien Eintritt in sämtliche Essener Schwimmbäder – und das waren nicht wenige. In den siebziger Jahren veröffentliche das Bäderamt die Broschüre ‚In Essen ist immer ein Bad im Bau’, vielleicht um bei der beachtlichen Zahl von Frei- und Hallenbädern nicht den Überblick zu verlieren. Meinen Freischwimmer absolvierte ich bereits mit sieben Jahren im Krayer Hallenbad bei der Schwimmmeisterin Waltraud Weiß, bei der wahrscheinlich tausende Essener Kinder schwimmen gelernt haben. Sonntags morgens nahm mein Vater mich oft mit nach Kray. Wunderschön war es, dass ich noch vor Öffnung des Bades in das „unberührte“ Wasser eintauchen durfte. Das Krayer Bad gefiel mit sehr gut, war es doch „mein“ Schwimmbad, in dem ich vor und hinter den Kulissen jeden kannte. 1976 wechselte mein Vater ins Hauptbad. Eingezwängt zwischen andere Gebäude lag es vor einem Innenhof, in den kaum ein Lichtstrahl drang. Werkstatt und Maschinenräume hatten keinerlei Tageslicht. Kesselhäuser, Magazine, Umkleiden für die Arbeiter reihten sich an mir endlos erscheinenden dunklen Gängen auf. Verglichen mit dem Krayer Bad wirkte das alles abstoßend auf mich. Eines Tages zeigte mir mein Vater den Tiefkeller. Hinter einer Tür, die mir bisher noch gar nicht aufgefallen war, ging es über eine steile Treppe in eine mir mittelalterlich anmutende schwarze Katakombe, die noch weit unterhalb der eigentlichen „Unterwelt“ dieses Bades lag. Das war, auch wenn es für mich so aussah, keine Vorstufe zur Hölle, sondern der alte Maschinenraum aus dem Jahr 1882, in dem mit gigantischen schwarzen Öfen das Badewasser noch über Kohlenfeuerung erwärmt wurde. So etwas hatte ich weder zuvor noch habe ich es danach je wieder gesehen und es machte mir dieses Schwimmbad nicht sympathischer. Das Hauptbad wirkte schon vor vierzig Jahren altmodisch auf mich. Der Abriss war längst überfällig.
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