Die Straße war menschenleer, sonst wäre die junge Frau in ihrem weißen Kleid oder vielmehr dem, was von dem einstmals vermutlich schönen, weißen Kleid übrig war, sicherlich sofort hervorgestochen. Aber die paar Wagen, die hier vorbeifuhren hielten sich nicht an irgendwelche Geschwindigkeitsbegrenzungen und so fiel sie wohl auch niemandem auf.
Es war schon ein eigenartiges Bild wie diese Frau in ihrem zerrissenen, dreckigen Kleid zielstrebig entlang schritt. War das etwa getrocknetes Blut auf ihrem Kleid? Bei genauerem Hinsehen fiel auch die Platzwunde an ihrer Stirn auf. Das Blut lief ihr quer übers Gesicht, doch entweder ignorierte sie es oder aber sie bemerkte es gar nicht. Ihr Blick war starr, keine Gefühlsregung zu erkennen, doch ein genauer Blick in ihre Augen genügte und man erkannte blanke Angst und Entsetzen.
Nach einer Weile betrat sie ein Grundstück. Statt den direkten gepflasterten Weg zu wählen, ging sie quer über den Rasen zur Hintertür des Hauses. Sie schien sich hier auszukennen, zumindest ihr zielstrebiger Gang und dass sie sich nicht einmal genauer umsah ließen darauf schließen.
Ron und Benedikt saßen im Wohnzimmer, als es klopfte. Fragend sah Ron Benedikt an, doch dieser zuckte nur mit den Achseln und ging dann zur Hintertür, die er vorsichtig öffnete. Erstaunt sah er auf die blutverschmierte Frau. Sie stammelte irgendetwas von Hilfe, Benedikt verstand nicht wirklich, doch er kam nicht dazu nachzufragen. In dem Moment, als die Fremde zusammenbrach, reagierte er augenblicklich, fing sie auf und trug sie ins Haus - nicht ohne sich vorher davon zu überzeugen, dass sie niemand beobachtete.
„Was geht denn jetzt ab?“ wollte Ron wissen, als sein Kollege mit einer bewusstlosen Frau, die allem Anschein nach verletzt war, auf den Armen ins Wohnzimmer kam.
„Ich hab keine Ahnung“, erwiderte der, während er sie auf dem Sofa ablegte.
„Hat sie was gesagt?“ wollte Ron wissen, gleichzeitig reichte er Benedikt den Verbandskasten.
„Irgendwas von wegen sie braucht Hilfe.“
„Das seh’ ich selbst.“
„Nein“, flüsterte die Fremde.
Dann schlug die Frau die Augen auf und bemerkte, dass sie auf einem Sofa lag. Der Mann, der ihr geöffnet hatte, kniete vor ihr und tupfte ihre Stirn ab.
„Na, junge Frau, wieder da?“ begrüßte er sie ohne dabei mit seiner Arbeit inne zu halten.
„Was `nein`?“ wandte der Andere sich an die Unbekannte.
Sie sah zu dem Mann rüber, er saß seitlich von ihr auf einem Sessel. Selbst im Sitzen war seine Größe unverkennbar. Er trug sein blondes Haar sehr kurz und der Anzug sah adrett aus.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen“, eröffnete sie den beiden.
Ron und Benedikt tauschten vielsagende Blicke aus.
„Sie haben sich wohl ziemlich heftig den Kopf angestoßen“, mutmaßte Benedikt, während er ihr ein Pflaster auf die Stirn klebte.
„Kennen Sie eine Frau im mittleren Alter, lange blonde Haare, blaue Augen, Schmetterlingstätowierung auf dem Schulterblatt?“ fuhr sie unbeirrt fort.
Kurz darauf richtete Ron eine Waffe auf sie.
„Was hast du mit Annas Tod zu tun?“
Erschrocken sah sie ihn an, die Waffe in seiner Hand machte ihr Angst und sie brachte keinen Ton mehr heraus.
„Nun rede schon!“ befahl Ron.
Sie öffnete ihren Mund, doch durch seinen Revolver konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.
„Ron, steck die Waffe weg!“ forderte Benedikt ihn auf.
Fragend sah Ron seinen Kollegen an.
„Siehst du nicht, wie blass sie geworden ist, als du sie bedroht hast? So kriegst du bestimmt nichts aus ihr raus!“
„Meinst du, du kannst es besser?“
Wieder ein kurzer Blickkontakt zwischen den Männern, schließlich legte Ron seine Waffe zur Seite. Benedikt setzte sich zu ihr.
„Besser?“ fragte er nur.
Sie nickte.
„Ja, danke“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Was wissen Sie über Anna?“ wollte Benedikt von ihr wissen.
Sie griff in ihren Ausschnitt. Sofort griff Ron erneut nach seiner Waffe.
„Ron!“
Dieses eine Wort und ein scharfer Blick genügten, um Ron von dem, was er gerade tun wollte, abzuhalten.
Auffordernd sah Benedikt ihren ungebetenen Gast an.
Die Frau zog eine kleine memory card aus ihrem BH und reichte sie Benedikt mit den Worten:
„Die hat sie mir gegeben.“
Benedikt nahm die Karte an sich und ging wortlos zum Schreibtisch.
„Warum sollte sie dir was gegeben haben? Benedikt, das ist eine Falle! Da ist bestimmt ein Virus drauf!“ warnte Ron seinen Kollegen.
„Sieh dir das an!“ Benedikt klang erstaunt. Sofort ging Ron zu ihm.
„Wer sind Sie?“ wandte Benedikt sich interessiert an die Frau.
„Eigentlich niemand.“
„Eigentlich? Wie soll ich das versteh`n?“
„Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
„Erklären Sie mir das!“ forderte Benedikt sie auf, nachdem er sich wieder zu ihr auf die Couch gesetzt hatte.
„Ich war in einem Club und dort sah ich Anna zum ersten und letzten Mal.“
„Was für ein Club?“
„Der heißt `Chez Fabienne` oder so ähnlich…“
„Der Homoclub?“ fiel Ron ihr ins Wort.
„Es ist ein Club, in den alle gehen können, aber in erster Linie findet man dort gleichgeschlechtliche Partner.“
Benedikts erstaunter Blick blieb ihr nicht verborgen.
„Du willst mir doch nicht weis machen, dass Anna in so einem Club gewesen sein soll!“ machte Ron sie unfreundlich an.
Bei seinem Tonfall zuckte die Fremde zusammen.
„Erzählen Sie bitte weiter!“ forderte Benedikt.
„Ich saß am Tresen, als Anna den Club betrat. Ihr knallrotes Kleid fiel einfach auf. Sie guckte sich kurz im Raum um und kam dann direkt auf mich zu.“
„Jetzt willst du uns wohl auftischen, dass sie dich angegraben hätte!“
Rons Misstrauen war unverkennbar, er glaubte ihr kein Wort. Sie sah Benedikt an und glaubte in seinem Blick zumindest Neugierde zu erkennen, also fuhr sie fort:
„Sie forderte mich zum Tanzen auf, also ging ich mit ihr auf die Tanzfläche. Es war irgendwie merkwürdig, denn sie sagte kein Wort, ihr Blick war zum Boden gerichtet. Schließlich bat ich sie, mich anzusehen. Anna sah zu mir auf und ich erkannte Tränen in ihren Augen.“
„Was geschah dann?“ wollte Ron nun doch wissen.
„Sie legte ihre Hand auf meine Brust und forderte: `Vernichte das!` Danach brach sie zusammen. Dann entstand ein ziemliches Gewusel, eine Menge Leute standen um uns herum. Ich verzog mich in die Menge der Gaffenden. Dann kamen einige Männer. Zwei von ihnen trugen sie raus, die Restlichen begannen die Gäste auszufragen. Da hab ich mich durch ein Toilettenfenster davon geschlichen. Dabei ist mir auch mein Kleid zerrissen.“
„Du trägst dieses Kleid seit dem Vorfall?“ fragte Ron erstaunt.
„Wie lange ist das her?“ hakte Benedikt nach.
„Ich schätze etwa 48 Stunden.“
„Was ist seit dem geschehen? Und wie sind Sie hierhergekommen?“
„Könnte ich ein Glas Wasser haben?“ bat die Frau ohne auf Benedikts Fragen zu antworten.
„Sicher“, meinte er und stand auch schon auf. Plötzlich blieb er stehen.
„Haben Sie auch Hunger?“
Sie nickte, ihre Unsicherheit war deutlich zu spüren.
„Was hat Anna dir gegeben?“
„Was?“ fragend sah sie Ron an, der sich an sie gewendet hatte.
„Wenn sie wollte, dass du etwas vernichtest, dann muss sie es dir wohl vorher gegeben haben.“
Das klang abfällig, als würde er mit einem kleinen, dummen Kind reden, doch sie ignorierte seinen Tonfall.
„Sie ließ mir die Karte, die ich Ihnen gegeben hab, in den Ausschnitt fallen.“
„Und warum hast du sie nicht vernichtet?“
Ron blieb misstrauisch.
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