Volker Backes | Andreas Beune | Christoph Ruf
Ohne Fußball
wär’n wir
gar nicht hier
Geschichten von Fans in der Midlife-Crisis
verlag die werkstatt
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Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt, Göttingen
ISBN 978-3-89533-856-4
[Vorwort]
Ohne Fußball wär’n wir gar nicht hier
[Christoph Ruf]
Ritual de lo habitual
[Andreas Beune]
Wie ich ein bemitleidenswerter Fan einer noch bemitleidenswerteren Fußballmannschaft wurde
[Volker Backes]
Zu viel E in Frankfurt
[Christoph Ruf]
Poldi pour Poldi
[Andreas Beune]
Wellenbewegungen im Kuchenblock
[Christoph Ruf]
Fanmeilenmenschen und echter Fußball
[Volker Backes]
Einen Bastard sich schön reden
[Christoph Ruf]
Das dumme Volk
[Andreas Beune]
Was der Fußballer uns lehrt
[Christoph Ruf]
Ultras
[Andreas Beune]
Vier Tage im August
[Volker Backes]
Sportabzeichen
[Andreas Beune]
Stecken lassen
[Christoph Ruf]
Perish like a fading horse
[Volker Backes]
Gott schütze Rot-Weiss Essen
[Andreas Beune]
Demais futebol
[Christoph Ruf]
Ich und der Ostfußball eine Abbitte
[Andreas Beune]
Absteigen in Altenbeken
[Volker Backes]
Wo bitte geht’s zum FC Agro?
[Andreas Beune]
Traumberuf Fußballmoderator
[Volker Backes]
Die Konstruktion von Wirklichkeit
[Andreas Beune]
Die Strafe ist vom Tierhalter gespeichert
[Andreas Beune]
Abschalten!
[Christoph Ruf]
Einstiegsdrogen ins Reich des Schwachsinns eine Abrechnung mit den Fußballfans
[Andreas Beune]
Eine Liebeserklärung an den Fußball
[Volker Backes]
Ohne Fußball wär’n wir gar nicht hier
[Vorwort]
Ohne Fußball wär’n wir gar nicht hier
Der Fußball hat uns geprägt. Geplante Weltrevolutionen und tatsächliche Familienfeiern mussten leider ohne uns auskommen, weil sie am Wochenende mit wichtigeren Dingen konkurrierten. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten haben wir Tausende Spiele verfolgt, in großen und kleinen Stadien, auf übergroßen und viel zu winzigen Fernsehern, am Radio und im Videotext. Von viel zu vielen dieser Spiele sind uns noch viel zu viele Bilder präsent, wichtige Tore und vergebene Großchancen, wunderbare Fangesänge und debile Kommentare, ehrliche und inhaltlose Aussagen von Spielern und Trainern. Obwohl wir selbst vom fußballerischen Talent weitgehend verschont wurden, hat uns dieser Ballsport mit all seinen Randerscheinungen gefesselt.
Jetzt, wo wir mittlerweile älter sind als alle Spieler auf dem Platz, zu denen man einst mit dem um Unterschriften bettelnden Sammelbildalbum in der vor Aufregung zitternden Hand hochblickte, sind wir mit einem Fußball konfrontiert, der in den vergangenen Jahren deutlich dynamischer, transparenter, präsenter und komfortabler geworden ist. Der Fußball ist mittlerweile nicht nur beim FC Barcelona schneller und taktisch variabler. Selbst von Zweitligaspielen gibt es ausführliche Statistiken über Laufwege und Zweikampfverhalten der Spieler. Fast täglich kann man eine Fußballpartie sehen, vor Ort oder im Fernsehen, im Internet sind die Ligen der Welt nur einen Mausklick entfernt. Man kann sich online über Taktiktrends in Südamerika informieren, aber auch über die Befindlichkeiten der Ultra-Szene eines handelsüblichen Drittligisten. Die High-Tech-Stadien präsentieren sich familienfreundlicher als die Stahlrohrkonstruktionen der achtziger Jahre.
Doch trotz all dieser Veränderungen ist das Unbehagen darüber gewachsen, dass der Fußball in der jüngeren Vergangenheit einen Teil seiner Seele verloren hat. Oder weniger pathetisch formuliert: dass der Fußball mit seinen Begleiterscheinungen langweiliger und farbloser geworden ist. In Zeiten, in denen Retortenklubs sich zwar Erfolg, aber keinen Charme kaufen können. In denen in austauschbaren Wohlfühlarenen der inszenierte Stimmungsterror manchen Zuschauern schon vor dem Anpfiff den letzten Nerv raubt. In denen Spieler und Trainer ewig gleiche nichtssagende Antworten auf oft auch nicht unbedingt fantasievolle Fragen geben. In denen das öffentlich-rechtliche Fußballvermarktungsprogramm Berichte über die Schattenseiten des Spiels gepflegt ins nächtliche Niemandsland verlegt. In denen manche Vereine mehr Geld und Energie in Marketingkampagnen stecken als in die eigene Mannschaft.
Wir bekennen: Wir sind Fußballfans in der Midlife-Crisis. Sätze wie „Fußball ist unser Leben“ kommen uns einfach nicht mehr über die Lippen, weil im Alter die Selbstachtung mit den grauen Haaren um die Wette wächst. Der heilige Ernst, mit dem wir noch vor 15 Jahren abendelang über die Kleinkriege in unseren Fanszenen diskutierten, ist uns abhanden gekommen. Dennoch juckt es uns nach wie vor in den Füßen, wenn am abendlichen Horizont ein illuminierter Flutlichtmast zu sehen ist. Und weil so ein Kribbeln nur aufhört, wenn man dem Drang nachgibt, leben wir auch heute noch jeden Tag mit der überbewertetsten Nebensache der Welt.
In diesem Spannungsfeld zwischen Faszination, Abhängigkeit und Ermüdung haben wir Sach- und Lachgeschichten aus der Fußballwelt zusammengetragen. Es sind Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven. Es geht um Erweckungs- und Erschreckenserlebnisse, um Auswärtstouren in den Osten und Stadiondialoge in Ostwestfalen, um den verzweifelten Umgang mit Devotionalien und fußballsüchtigen Kindern, den Einfluss von Fernsehsendern und Ultras. Aber auch um sportliche Selbstertüchtigung, demente Stadionordner und die wichtigste Sendung der Welt. Nicht die „Sportschau“, sondern die „Simpsons“. Dabei gehen wir der ganz und gar ernsthaften Frage nach, ob man vielleicht gerade dann Fußballfan ist, wenn einen die banalen Aussagen der Stars und die künstlichen Aufregungen der Medien nur noch zu Tode langweilen.
Kurzum: Gründe genug, um ein Buch zu schreiben, das das Lebensgefühl derer widerspiegelt, die zu alt sind, um noch Ultra zu sein. Und zu jung, um nicht sofort zur Fernbedienung zu greifen, wenn uns Jessica Kastrop und Franz Beckenbauer eine Welt erklären, die wir besser kennen als sie.
[Christoph Ruf]
Ritual de lo habitual
Ich leide wie der junge Werther, nur meine Leiden sind noch härter: Über Selbstmordgedanken im Stadion-Shuttle.
Johann Wolfgang von Goethe muss für vieles herhalten, wogegen er sich aus rein biologischen Gründen nicht mehr wehren kann. Frackträger aus dem mittleren Management von Autoversicherern geben bei Weihnachtsfeiern Zitate aus seinen Werken zum besten, Studentenverbindungen besaufen sich in seinem Namen, und überhaupt gibt es hierzulande sicher weit mehr Goethe-straßen als Menschen, die den guten Mann mit „oe“ statt mit „ö“ schreiben. Kurzum: Der bedauernswerte Dichterfürst wird von den absonderlichsten Gestalten in Beschlag genommen.
Sogar von Fußballfans in der Midlife-Crisis, die im Stadion immer öfter an den armen Werther und dessen Leiden denken müssen. Der junge Mann seufzte ja bekanntlich bereits in den Siebzigern des 18. Jahrhunderts, es sei „ein einförmig Ding um das Menschengeschlecht“. Ritualisierte Vergnügungen („Eine Spazierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit“), wohin das Auge reicht. Ein wenig Tanz, ein Humpen Bier. Zur Verwunderung Werthers waren seine Mitmenschen damit zufrieden.
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