Aber vielleicht ist dieses Verhalten ja keineswegs so absonderlich. Schließlich scheint der Fußball die Fantasie anzuregen, wie ein Blick in die Bekenntnisliteratur von Toni Schumacher über Lothar Matthäus bis hin zu Bodo Illgner nahelegt. Um meinen Sohn nun mit dem wirklichen Fußballleben in Kontakt zu bringen, köderte ich ihn mit der Aussicht auf Pommes und Crepes, und tatsächlich wollte er im Alter von fünf Jahren sein erstes Arminia-Spiel im Stadion sehen.
Seine erste Saison war die schlechteste Saison Arminias aller Zeiten. Und das will bei der Vereinsgeschichte wahrlich etwas heißen. Was tat ich ihm da an? Welche pädagogisch wertvollen Erkenntnisse konnte der Besuch eines Spiels von Arminia Bielefeld in den Jahren 2010 und 2011 liefern? Immerhin handelt es sich um einen Verein, der fast pleite gegangen ist und dann nicht etwa, wie bei anderen Vereinen üblich, von Fanspenden oder reichen Gönnern gerettet wird, sondern von geliehenem Geld eines Freundes eines Sponsors, der zugleich öffentlich betont, dass Arminia ihm vollkommen egal ist und er nur seinem alten Unternehmerkumpel einen Gefallen getan hat und er auch schon gleich mehrere erboste Anrufe von anderen Unternehmerkumpeln erhalten hätte, die ihn davor gewarnt hätten, Geld in dieses Fass ohne Boden zu investieren. Wir sprechen von einem Verein, der vor seinen Heimspielen eine sogenannte Fan-Hymne durch die Stadionboxen jagt, in der ein Schlagerbarde in Art der Hans-Hartz-Taubenbeschwörung ohne jeden Anflug von Ironie Textzeilen hinauspresst, die in der Aussage kulminieren: „Arminia, Arminia, wir sind die besten Fans der Welt.“
Jetzt habe ich den Salat. Seit dem ersten Stadionbesuch ist mein Sohn begeisterter Arminia-Fan. Die Arminia-Hymne ertönt täglich aus dem Kinderzimmer, er singt auch andere Lieder, die sich darum drehen, dass Bremer stinken, weil sie aus der Weser trinken, und er fragt vorm Schlafengehen, wie dieser Spruch mit Schalke 04 und dem Klopapier noch mal ginge.
Ich könnte mich jetzt damit herausreden, dass ihn seine Arminia-Besuche mit einer wichtigen Erkenntnis aus der Schule des Lebens versorgen würden: Dass man auch das Verlieren lernen muss. Das Problem nur ist, dass ihn der Fußballsport an sich überhaupt nicht interessiert. Er mag die Lieder der Fans, die Pommes mit Mayo, die Crêpes mit Schokoladencreme, die großen Stadionanzeigentafeln und wenn der Schiedsrichter Gelbe Karten verteilt. Vielleicht sollte ich mir mal an ihm ein Beispiel nehmen nicht nur, wenn Arminia mal wieder gegen Braunschweig spielt.
[Volker Backes]
Zu viel E in Frankfurt
Oft ist der Weg das Ziel, außer beim Stadionbesuch. Dort nimmt man den Eingang, um ans Ziel zu gelangen. Wenn man ihn denn findet.
Das klang doch nach einem guten Deal: Zwei Freunde mit Kontakt zur Business-Klasse unserer Gesellschaft boten mir an, direkt nach der Arbeit um halb fünf bei ihnen im Auto nach Frankfurt zum Auswärtsspiel mitzufahren. Sie hätten eine Parkberechtigung für die Tiefgarage UNTER dem Stadion, sagten sie, von dort führe für sie dann ein Lift direkt in die Lachs- und Kaviar-Loge und für mich sei es auch nicht weit zum Pöbel in den Fanblock. Das klang bequem und schnell, die fiese Spitze im Tonfall überhörte ich galant. Die Reise mit dem Zug wäre auch zeitlich knapp geworden. Zwanzig nach vier los, zehn Minuten Übergang in Köln, um schließlich gut vierzig Minuten vor Anpfiff um 20:30 Uhr am Frankfurter Hauptbahnhof zu landen. Zu viel unkalkulierbares Risiko, man kennt ja die Bahn und überhaupt. Holger, ein Freund im Frankfurter Exil, mit dem ich mich vor dem Spiel am Stadion treffen wollte, vertraute ebenso wenig auf die Pünktlichkeit der Züge und malte auch gleich ein Horrorszenario aus. „Stell dir vor, wir gewinnen das Spiel und du stehst weinend am Kölner Dom, weil du den Anschlusszug verpasst hast.“
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, um kurz vor halb acht folgten wir der Beschilderung zum Stadion. Wir rollten in einer Kolonne in ein Waldstück hinein, was uns nicht weiter befremdete, schließlich hieß die Arena ja mal Frankfurter Waldstadion. Auf einem großen Kartoffelfeld schließlich wies uns ein junger Mann mit einer Leuchtkelle in eine Parklücke. „Wo geht’s denn hier zur Tiefgarage?“, wollte Andi, der Fahrer, wissen. „Weiß nicht“, antwortete der Jungspund, „fragen Sie den Chef dort vorne.“ Der Chef dort vorne zeichnete sich dadurch aus, dass er zwei Leuchtkellen in den Händen hielt. Und er kannte zu unserer Beruhigung auch die Tiefgarage. „Fahren Sie hier geradeaus und dann zweimal links!“ Wir fuhren also geradeaus und dann zweimal links und landeten an einer Kreuzung, an der uns ein Mann mit Megaphon anbellte: „Letzte Parkmöglichkeit, hier rechts ab!“ Andi hielt an und fragte nach der Tiefgarage. „Letzte Parkmöglichkeit, hier rechts ab!“, brüllte Megaphon-Man, man hatte offenbar nur einen Satz in ihn einprogrammiert. Andi fragte nochmals nach der Tiefgarage, dann allerdings folgte eine wenig befriedigende Aussage: „Daran sind Sie vor 200 Metern vorbeigefahren.“
Nun standen wir in einer Einbahnstraße, weshalb die Handlungsanweisung eindeutig ausfiel: „Fahren Sie hier geradeaus und dann zweimal links!“ Wir fuhren also geradeaus und landeten nach nur einmal links um viertel vor acht in einem Stau. Zehn Minuten später waren wir erst zehn Meter weiter. Holger rief an, er sei jetzt am Stadion, wo ich denn mit den Eintrittskarten bliebe. Ich stieg aus und rannte los, weit konnte es ja nicht mehr sein. Nach zehn Minuten rief Holger wieder an.
„Wo bist du?“, fragte er.
„An einer vierspurigen Schnellstraße mit Eisenbahnschienen nebenan“, keuchte ich beim Weiterlaufen.
„An dieser Straße, die durch den Wald geht? Wo wir vor zwei Jahren schon einmal langgelaufen sind?“, fragte Holger nach einer kurzen Denkpause.
„Nein“, entgegnete ich, „kein Wald. Schnellstraße. Wo Schnellstraße, dort in der Regel kein Wald.“
Holger schwieg, dann fragte er: „Kannst du das Stadion schon sehen?“
„Nein“, sagte ich, „aber eine Schnellstraße.“
Holger meinte, in Stadionnähe gebe es keine Schnellstraße, was aber nicht sein konnte, weil ich ja an einer solchen entlang lief. Und das war doch der Weg zum Stadion, oder? Das war er doch, ODER?
„Melde dich wieder, wenn du klarer siehst“, riet mir Holger, es war bereits zehn nach acht. Nach weiteren fünf Minuten erreichte ich eine Straßenbahnhaltestelle mit der Aufschrift „Stadion“. Holger fand das ebenso super wie ich.
„Ich stehe am Haupteingang“, sagte er durch das Telefon. Und: „Bis gleich.“
Um 20:20 Uhr erreichte ich den Haupteingang. Holger war nicht da. Etwas nervös rief ich ihn an.
„Ich stehe rechts vom Haupteingang neben der Telefonzelle, und du?“, schrie ich in den Hörer. Holger schwieg kurz.
„Telefonzelle?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich, „eine Zelle mit Telefon zum Telefonieren. Telefonzelle eben.“
„Hier ist keine Telefonzelle“, meinte Holger, „kannst du das Stadion sehen?“
Nein, konnte ich nicht, war mir in der Aufregung gar nicht aufgefallen.
„Wo um alles in der Welt bist du?“, fragte Holger, ich fragte mich das langsam auch. Ich las ihm die Aufschrift über dem Torbogen vor: „Haupteingang E1.“
Ich hörte Holger tief atmen, dann sagte er: „Hier steht Haupteingang E5.“ Als numerisch geschulte Mitteleuropäer schlossen wir an dieser Stelle: Haupteingang ist nicht gleich Haupteingang in Frankfurt, denn E5 ist vier mehr als E1. Ich wandte mich an einen Ordner.
„Wie komme ich zu Eingang E5?“, fragte ich. „Mein Kumpel steht da und ich habe seine Karte.“
„Wo sind wir denn hier?“, fragte der Ordner.
Ich fand diese Gegenfrage ungewöhnlich für einen Ordner, schließlich nahm ich an, dass seine Hauptaufgabe darin bestand, Ordnung zu schaffen und dabei stets zu wissen, wo er sich befindet.
Читать дальше