Zu Beginn der zweiten Lerneinheit in diesem Kapitel gehen wir auf die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit ein und auf den Einfluss der L1 auf den multiplen Sprachenerwerb. Im Anschluss daran werden zentrale Faktoren, die den Sprachenerwerb mitbestimmen, dargestellt und diskutiert. Dabei werden Sie erfahren, wie letztere sich gegenseitig beeinflussen und gebündelt individuelle Formen von Mehrsprachigkeit prägen. Auf diesen Faktoren und deren kombinierter Betrachtung basieren auch die Mehrsprachigkeitsmodelle, mit denen Sie sich in Lerneinheit 2.3 beschäftigen werden.
2.1 Mehrsprachigkeit und Migration
Jörg Roche
Die ökologischen Prozesse der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lassen sich vor allem bei Migranten gut beobachten, die zeitüberlappend an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kulturwelten leben. Transnationalität und Transmigration bilden hier den Rahmen des Lebensumfeldes, der oft durch zirkuläre Migration, Pendelmigration (siehe Bade 2000), dienstliche Reisen für Studien- oder Arbeitsaufenthalte (besonders bei den so genannten expatriates , die für längere Zeit im Ausland leben) und andere temporäre Mobilitätsfaktoren erweitert wird. Diesen Wandel zu dynamisch-multikulturellen Gesellschaften müssten folglich nicht nur die Gesellschaftspolitik, sondern auch die auf Politikberatung ausgerichtete Migrations- und Bildungsforschung abbilden. Stattdessen aber dominiert auch hier ein konzeptuell monolingualer Modus: Im Kontext der Internationalisierung der Bildung und Wissenschaft wird der Bedarf an mehrsprachiger Kommunikation meist auf die Lingua Franca Englisch projiziert. Im Umfeld des Migrations- und Integrationsdiskurses findet dagegen vor allem eine Reduktion auf zielsprachliche Sprachkenntnisse der Lingua Franca Deutsch statt. Im Integrationsdiskurs werden Kenntnisse der Zielsprache die größte Wirkung zugesprochen. Gesetzliche Regelungen und Prüfungen zu Minima von Kenntnissen der Zielsprache werden als Vorbedingung für die Einwanderung oder den Aufenthalt festgelegt und hochqualifizierten fremdsprachigen Migranten, die diese Anforderungen nicht erfüllen, wird die Arbeitserlaubnis verweigert und die Integration erschwert. Die monolinguale Ausrichtung des Integrationsdiskurses bewirkt, dass sich Bildungsstudien auf die Messung von Kenntnissen der Zielsprache konzentrieren, aber die familiensprachlichen Kenntnisse weitestgehend außer Acht lassen.
Lernziele
In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie
Ergebnisse von Migrations- und Bildungsstudien zur gesellschaftlichen Wertigkeit von Mehrsprachigkeit kennen lernen;
die Potenziale elaborierter Wertschätzung und Wertschöpfung von Sprachen reflektieren;
Konsequenzen für eine Didaktik der aufgeklärten Mehrsprachigkeit fokussieren.
2.1.1 Mehrsprachigkeit in Migrations- und Bildungsforschung
Reduziertes Sprachverständnis als Hindernis
Die in Europa und den USA stark verbreitete gesellschaftliche Ausrichtung auf den monolingualen Modusmonolingualer Modus lässt Fremdsprachigkeit vor allem – zumal im Kontext von Zuwanderung und Integration – weitläufig als Problem erscheinen, nicht als Chance. Dahinter verbirgt sich oft die Annahme, Sprache und Identität ließen sich nur in Reinnatur und von anderen Sprachen und Kulturen strikt getrennt einander zuordnen. Nach diesem „Reinheitsgebot der Identität“ führt alles andere zu Vermischungen, Verwirrungen, sozialer Entfremdung und Identifikationsproblemen.
Hansen (2003) führt diese Beschränkungen auf einen begrenzten Nationenbegriff zurück und Oberndörfer (2005) zeigt unter Rückgriff auf Herder und dessen kritische Charakterisierung des Nationenverlustes in Frankreich, wie hieraus die Konzepte der ‚Sprachnation‘ und der ‚Nationalsprache‘ entstanden sind. Oberndörfer (2005) macht weiter deutlich, wie im Zuge dieser Diskussion die Restaurierung oder Schaffung der Volkssprachen beginnt: Aus Dialekten werden verschriftlichte und standardisierte Sprachen, andere Dialekte werden aus alten Überlieferungen völlig neu gebildet oder mit bestehenden Dialekten kombiniert. Dies geschieht unter dem Diktat der Ideologie: „Ohne eigene Sprache keine echte Volksnation, kein Recht auf politische Selbstbestimmung und Separation“ (Oberndörfer 2005: 232).
Die Ausschließlichkeit der Zuordnung von Staatsgebiet sowie Nation und Nationalsprache bestimmt auch heute die politische Diskussion in jungen Nationalstaaten und autonomen Gebieten, und zwar gerade dort, wo sie lange politisch gebannt war. In der aktuellen Integrationsdebatte in den deutschsprachigen Ländern schwingen diese Beschränkungen in Begriffen wie ‚Leitkultur‘, ‚kulturelle Identität‘ und ‚Staatssprache‘ mit und motivieren den Vorschlag, die Rolle der deutschen Sprache im Grundgesetz zu verankern. Eine gewisse Zeit lang ist von Gegnern und Gegnerinnen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität angesichts dieser monolingualen Ausrichtung angenommen worden, dass sich Mehrsprachigkeit insgesamt negativ auf die beteiligten Sprachen und eher „verwirrend“ auf den allgemeinen Geisteszustand ihrer Sprecher und Sprecherinnen auswirken würde. Auch als politische Waffe gegen die Eingliederung ethnischer Minderheiten wurden diese vermuteten negativen Effekte der Mehrsprachigkeit zum Beispiel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland mobilisiert (vergleiche auch die Ausführungen von Wolff (2006) zu ähnlichen Tendenzen in Großbritannien). Dass auch in der Migrationsforschung und der Bildungsforschung ökologische Konzepte der Mehrsprachigkeit bisher kaum angekommen sind, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Das reduzierte Sprachverständnis in Gesellschaft und Migrationsforschung führt immer wieder zu Fehleinschätzungen des Integrationsstandes und der Integrationsfähigkeit sowohl bei Migranten als auch bei der Mehrheitsbevölkerung.
Dabei treten zwei Defizitbereiche in der Behandlung des Themas ‚Sprache und Integration‘ auf: Erstens wird Integration weitgehend am Grad der Übernahme des Verhaltens oder der Annäherung an das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft gemessen (Kopftuchfrequenz, Teilnahme am Sportunterricht, religiöse Praktiken, Medienverhalten und vieles mehr). Die Weiterentwicklung von Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit in einem dynamischen System des Kultur- und Sprachenausgleichs wird dabei ausgeblendet. Zweitens wird der Grad der tatsächlichen Annäherung der Migrantenpopulation an die Mehrheitsgesellschaft in der Öffentlichkeit weitgehend unterschätzt. Viele einschlägige Studien widerlegen die Negativ-Klischees über Migranten und zeigen dagegen ein variantenreiches Bild der Migration und Integration (siehe die Studie Muslimisches Leben in Deutschland des BAMF von Haug, Müssig & Stichs 2010; die Gutachten des Sachverständigenrates der Stiftungen mit dem Integrationsbarometer 2016 und mit dem Migrationsbarometer 2017).
Experiment
Die folgende Tabelle schlüsselt exemplarisch den Besuch religiöser Veranstaltungen nach Herkunftsregionen auf. Werten Sie die Tabelle aus: welche Tendenzen können Sie erkennen:
Abbildung 2.1:
Muslimisches Leben in Deutschland (Haug, Müssig & Stichs 2010: 161
Die BAMF-Studie Muslimisches Leben in Deutschland (Haug, Müssig & Stichs 2010) veranschaulicht unter vielen anderen Aspekten, dass der Einfluss religiöser Traditionen als vermeintliche Hürde zur Integration oft überschätzt wird. Bei diesem Aspekt wird unterstellt, dass eine starke muslimische Prägung eine eher distanzierte Haltung zum Aufnahmeland und gleichzeitig eine strenge Bindung an die Heimat und ihre religiösen und gesellschaftlichen Interessengruppen impliziert. Aus der Studie ergibt sich aber, dass durchschnittlich nur circa ein Drittel der Muslime in Deutschland häufig religiöse Veranstaltungen besucht und sich nur ein Teil der Muslime in Deutschland an religiösen Festen und Handlungen beteiligt. All dies sieht die BAMF-Studie als Indikator dafür, dass der Assimilation vor dem Ausbau transkultureller, mehrsprachiger Kompetenzen der Vorrang gegeben wird.
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