Es gibt noch eine weitere Situation, in der es um die Interaktion zwischen Lokalsprachen (oder einer Lokalsprache) und einer Handelssprache geht: Sie kann heute fast ausnahmslos in jedem Teil der Welt beobachtet werden, wo Englisch unter anderem für geschäftliche Zwecke, in einigen Medien, bei sozialen Ereignissen und in bestimmten Bildungseinrichtungen verwendet wird. Die Frage, ob die Position der englischen Sprache in solchen Situationen guten oder schlechten Einfluss auf die Sprachenvielfalt in der entsprechenden Umgebung nehmen kann, ist nicht leicht zu beantworten.
1.3.3 Von der territorialen Einsprachigkeit hin zur Mehrsprachigkeit
Als nationalstaatliche Vorstellungen im Europa des 18. Jahrhunderts aufkommen, wird Sprache zumeist als Marker der nationalen Identität angesehen (vergleiche auch Lerneinheit 1.2). Zu späteren Zeitpunkten wird diese Vorstellung sogar noch stärker, als sich Nationalstaaten herausbilden. Neben anderen Mitteln nutzen Nationalstaaten die Sprachen, um ihre Existenz aufzuwerten und zu legitimieren sowie um verschiedene Gruppen unter einem nationalen Kollektiv zu vereinen. Aus diesem Grund werden Sprachen standardisiert, oder manchmal sogar erfunden, so wie im Falle einiger zentralasiatischer Sprachen in der ehemaligen Sowjetunion, um als Zeichen der Mitgliedschaft zu einer größeren (nationalen) Gruppe zu dienen. Shohamy stellt dazu fest:
Um seine Existenz zu beschützen, musste der Nationalstaat strikte Regeln, Regulierungen und eine Anzahl symbolischer Marker erfinden, um bei seinen Mitgliedern festzustellen, wer dazugehörte oder nicht. Die erste Vorgabe war „biologischer“ Natur, d.h., man war Deutsch, Spanisch oder Chinesisch, wenn man in den ‚Stamm‘ hineingeboren wurde, oder ‚vom selben Blut war‘. Aber der Nationalstaat suchte kontinuierlich nach zusätzlichen symbolischen Markern als klarere und deutlichere Kennzeichen der Zugehörigkeit. Zu den Markern, die zusätzlich zu den biologischen und physiognomischen Indikatoren genutzt wurden, zählten jene einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Kultur, gemeinsamer Vorfahren, einer gemeinsamen Religion und […] einer gemeinsamen Sprache. (Shohamy 2006: 26)
Die Förderung nicht nur der Nationalsprachen, sondern auch ihrer Standardvarietäten war laut Spolsky essenziell für die nationalstaatliche Idee:
Sowohl die Französische Revolution als auch die deutsche Romantik vertraten eine Auffassung von Nationalismus, dem die Annahme zugrunde lag, dass eine einzige vereinende Sprache die beste Definition und der beste Schutz für die Nationalstaatlichkeit sei. Eine angemessene Nationalsprache auszuwählen und sie von ihren ausländischen Einflüssen zu bereinigen, war eine bedeutende Leistung. (2004: 57)
Die Tendenz zur Förderung von Standards ist während der Periode zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und auch danach immer noch sehr ausgeprägt. Doch die schwindenden nationalstaatlichen Vorstellungen in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts fördern den Diskurs zur Sprachenvielfalt und zu den sprachlichen Menschenrechten. Internationale politische Organisationen, die zum Ende der Kolonialzeit und des Zweiten Weltkriegs entstehen, legen strikte Regeln zur Sicherung der Menschenrechte fest. Sowohl die jungen postkolonialen Staaten, als auch die Staaten mit einer bereits länger währenden Eigenstaatlichkeit, die traditionsgemäß einsprachige Richtlinien verfolgen, werden unter Druck gesetzt. Letztere werden dafür kritisiert, dass sie keine soliden Mechanismen etabliert haben, um für den Schutz und die Förderung von Minderheitensprachen zu sorgen, um sprachliche und kulturelle Vielfalt zu erhalten und um die Verwendung von Minderheitensprachen im Bildungswesen, am Arbeitsplatz und in den Medien zu fördern. Zusammen mit den internationalen Organisationen übt zu diesem Zeitpunkt auch die Zivilgesellschaft Druck aus, die sich nach dem Scheitern des radikalen Nationalismus im neuen Europa lautstark Gehör verschafft. Junge postkoloniale Staaten sind diesem Druck ebenfalls ausgesetzt, da ihre Sprachenpolitik den Minderheitensprachen fast ausnahmslos keinen Platz einräumt (insbesondere zur Zeit ihrer Gründung).
Der verstärkte Ruf nach Demokratisierung in den vergangenen Jahrzehnten hat die Frage nach den Minderheiten höchst dringlich werden lassen. Respekt und Akzeptanz von Minderheitensprachen waren und sind einige der Anforderungen, die internationale Institutionen sowohl an neue Staaten, als auch an jene mit einer längeren Nationalstaatsgeschichte stellen. Die Reaktionen der unterschiedlichen Staaten fallen ungleich aus, aber insgesamt ist die Tendenz dahin gegangen, ein neues Grundgerüst für die Gesetzgebung und die Umsetzung zu schaffen, das zwar den unterschiedlichen Sprachen nicht immer den gleichen Status, aber immerhin eine wesentliche Funktion einräumt.
1.3.4 Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit: historische Meilensteine
Obwohl die gesellschaftliche und staatliche Befürwortung von Mehrsprachigkeit insgesamt einen Meilenstein in den vergangenen Jahrzehnten darstellt, hat der Umgang mit Minderheitensprachen innerhalb politscher und rechtlicher Systeme bereits eine längere Geschichte. Schon früh sind die Angelegenheiten der Minderheiten Diskussionsthemen internationaler Versammlungen, wie auf dem Wiener (1814) und auf dem Berliner Kongress (1878) sowie während der Pariser Friedenskonferenz (1919). In Russland, Österreich und Preußen werden beispielsweise 1815 die Rechte der polnischen Minderheiten, die zu diesem Zeitpunkt in diesen Staaten leben, anerkannt. Im Rahmen des Berliner Abkommens von 1876 verpflichten sich die Balkanstaaten dazu, das Leben und die Freiheit ihrer Minderheiten zu respektieren. Gemäß dem Abkommen von 1881 wird Muslimen in Griechenland Religions- und Sprachenfreiheit gewährt (Castellino 2000: 49ff). Im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg, müssen die Staaten, die Mitglied des Bundes werden wollen, Verträge, die eine neue Phase für den Schutz der Minderheitenrechte einläuten, einschließlich des Rechtes auf Verwendung der Erstsprache, unterzeichnen.
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein weiterer wichtiger Abschnitt in der Entwicklung internationaler Instrumente zum Schutz der Minderheiten, die in diesen Staaten leben. Das Verbot der Diskriminierung auf Basis einer Sprache ist Bestandteil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN 1948). Auch die Konvention der UNESCO gegen Diskriminierung im Jahr 1960 (UNESCO 1960) räumt den Minderheitensprachen Platz ein und schreibt vor, dass Kinder aus Minderheitengruppen in ihren eigenen Sprachen unter der Bedingung unterrichtet werden dürfen, dass sie dies nicht davon abhält, die Mehrheitssprache und die Kultur zu erlernen und kennenzulernen. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt 1966) beinhaltet eine spezifische Verfügung, die voraussetzt, dass Vertretern einer Minderheit ein Dolmetscher beziehungsweise eine Dolmetscherin ihrer eigenen Sprache zur Verfügung gestellt werden soll, falls sie wegen irgendeiner Sache gesetzlich belangt werden sollten.
Die nächste wichtige Phase der Wiederaufnahme und Verbesserung des internationalen Engagements gegenüber den Rechten von Minderheiten wurde in den 1990er Jahren eingeläutet, als das sowjetische Reich kollabiert und sich neue Staaten auf dem Territorium des einstigen Reiches herausbilden. Akademische Bemühungen zur Wiederbelebung von Sprachen, zur Umkehr des Sprachwechsels und zur Rettung von Sprachen vor dem Verfall hatten bereits den Höhepunkt erreicht. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen warben aktiv für die linguistic human rights und für die Sprachenvielfalt. Das Bewusstsein für bedrohte Sprachen auf der ganzen Welt stieg an und es wurde ernsthaft an die Regierungen appelliert, die sprachenpolitischen Richtlinien und Mechanismen zum Schutz der Minderheitensprachen zu verbessern (vergleiche Simons & Lewis 2013: 3).
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