Experiment
Führen Sie Interviews mit 20 Personen, die sich selbst als zweisprachig oder mehrsprachig bezeichnen. Erstellen Sie eine Liste der Sprachen, die jeder beziehungsweise jede von ihnen kennt. Wie viele von ihnen beherrschen ‚weniger bekannte Sprachen‘ (oder solche, die benachteiligt sind) als ihre eigene? Fragen Sie diese Personen nach den Gründen, aus denen sie diese Sprachen gelernt haben. Analysieren Sie Ihre Daten und identifizieren Sie die Hauptmotive, die zum Erlernen einer Sprache führen (ohne zu verallgemeinern).
Vermutlich wird Ihre Liste mehrsprachige Personen umfassen, die sich um das Erlernen von Sprachen bemüht haben, die bekannter sind als ihre eigene. Dies zeigt auch, warum Einsprachigkeit am weitesten unter Sprechern und Sprecherinnen der bekanntesten Sprachen verbreitet ist.
1.3.6 Mehrsprachigkeit in der Bildungspolitik: zweisprachige Bildungsmodelle
Ob ein Staat verschiedene Sprachengruppen auf seinem Gebiet unterstützt, wird am ehesten anhand der Sprachen deutlich, die im Unterricht verwendet werden. In Staaten, in denen Minderheiten auf engem Raum leben, sind zweisprachige Unterrichtsmodelle normalerweise die beste Antwort auf die bildungsbezogenen Bedürfnisse der Minderheitengemeinschaften, insbesondere jener, die üblicherweise die Mehrheitssprache nicht beherrschen. Zweisprachige Bildungsmodelle sind deshalb so gestaltet, dass sie Kindern aus Minderheitengruppen dabei helfen, sich reibungslos innerhalb des Bildungssystems zu bewegen. Es gibt mehrere zweisprachige Bildungsmodelle, die vom sprachlichen Repertoire und den Bedürfnissen der Gemeinschaft abhängen sowie von den politischen Richtlinien des Staates oder der Schule.
Ein weit verbreitetes Modell ist das der übergangsweisen zweisprachigen Erziehung ( transitional bilingual education) , in dem die Kinder zu Beginn, meist innerhalb der ersten drei Jahre, das Lesen und Schreiben in ihrer Erstsprache lernen. Eines der besten Beispiele dafür sind die Philippinen, auf denen Filipino und Englisch die Amtssprachen sind. Jedoch erlauben die politischen Richtlinien, dass in der Schule lokale Mundarten als Übergangssprachen von der Einschulung bis zur dritten Klasse verwendet werden (vergleiche Dekker & Young 2007: 239).
In anderen Fällen können Schulen zweisprachige Programme ( dual language programs ) anbieten, in denen die Schüler und Schülerinnen simultan in zwei Sprachen unterrichtet werden. Sinn und Zweck dieser Programme ist es, die Kompetenz und Kenntnis in zwei unterschiedlichen Sprachen zu fördern. Beispielsweise bieten viele US-amerikanische Schulen solche zweisprachigen Programme auf Englisch und auf Spanisch an. Diese Programme dauern üblicherweise bis zur fünften Klasse, und viele sogar bis zur High School.
Es gibt viele andere Modelle zur Unterstützung von Minderheitensprachen. In einigen Schulen werden die Hauptfächer beispielsweise in der Mehrheitssprache unterrichtet, während Intensivkurse in der Landessprache angeboten werden. In Aserbaidschan bieten die Schulen zum Beispiel in den von Minderheiten bewohnten Gebieten Intensivkurse in Landessprachen wie unter anderem Talisch, Lesgisch und Tsachurisch an.
1.3.7 Mehrsprachigkeit und gesellschaftlicher Wille
Die Haltung einer Gemeinschaft gegenüber ihrer Erstsprache und ihrer Kultur ist sehr wichtig für den Spracherhalt: Wenn der Wille und das Interesse der Gemeinschaft nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, dann können politische Entscheidungen und die zugewiesenen finanziellen Ressourcen wirkungslos sein. Wenn andererseits der Wille der Gemeinschaft stark ist, dann könnten politische Bereitschaft und finanzielle Ressourcen leichter zugänglich sein.
Jede Initiative einer Gemeinschaft benötigt jedoch kontinuierliche Unterstützung und Ermutigung. Sogar bei einer sehr vorteilhaften Sprachenpolitik können Sprecher und Sprecherinnen von Minderheitensprachen eine Tendenz zur Aufgabe der Erstsprache zeigen, wenn die Mehrheitssprache zum Beispiel bessere Möglichkeiten für die Ausbildung, für den Beruf und für soziales Prestige bietet. Die Tendenz wird umso stärker sein, wenn die Mehrheitssprache zusätzlich all die Nischen ausfüllt, in denen die Minderheitensprache bislang eingesetzt wurde. Dies ist bei den Mehrheitssprachen einiger souveräner Staaten zu Zeiten der Sowjetunion der Fall. Zwar werden die Mehrheitssprachen in den souveränen Staaten nicht unterdrückt, aber da Russisch mehr Möglichkeiten bot, vollzieht sich nach und nach ein SprachwechselSprachwechsel zugunsten des Russischen, welcher die lokalen Sprachen allmählich verdrängt.
Fishman behauptet, dass bedrohte Sprachen zu solchen werden, weil ihnen die informelle, generationsübergreifende Transmission und die Unterstützung im informellen täglichen Leben fehlen, und nicht deshalb, weil sie nicht in der Schule unterrichtet werden, oder keinen offiziellen Status haben (vergleiche Romaine 2002: 2). Deshalb ist das Verwenden indigener Sprachen innerhalb der Gemeinschaft (in der Familie, der Nachbarschaft, bei Gemeinschaftstreffen, in der Grundschule, am Arbeitsplatz und so weiter) für ihren Erhalt essenziell. Ein heimatliches Prestige für bedrohte Sprachen zu schaffen, ist in der Tat für ihren Erhalt sehr wichtig.
Auch einsprachige Staaten müssen sich mit verschiedenen Fragen bezüglich des Sprachkontaktes, der Interaktion des Staates mit unterschiedlichen Sprachgruppen, der Interaktion zwischen und innerhalb dieser Sprachgruppen, der Sprachenrechte sowie dem Entgegenwirken von Sprachwechsel und Sprachverlust auseinandersetzen.
Die aktuellen globalen Tendenzen setzen einige traditionell einsprachige Staaten unter Druck und drängen diese dadurch dazu, ihre Richtlinien zu überdenken. Politische Erklärungen tendieren allerdings manchmal dazu, nur auf dem Papier zu bestehen und nicht praktisch umgesetzt oder gefördert zu werden.
Zwischen den Sprachen und deren Sprechern und Sprecherinnen innerhalb einer mehrsprachigen Gesellschaft existieren unterschiedliche Machtverhältnisse, die sich in den soziopolitischen Strukturen, der sprachenpolitischen Praxis, der politischen Positionierung und den wirtschaftlichen Interessen äußern.
Neben den Bemühungen Minderheitensprachen zu erhalten, konzentrieren sich viele Staaten darauf, Weltsprachen in das gesellschaftliche Sprachenrepertoire zu integrieren.
Sprachverlust bedeutet auch immer ein Verlust von traditionellem Wissen, Kultur und Werten.
1.3.9 Aufgaben zur Wissenskontrolle
1 Beschreiben und charakterisieren Sie den Wendepunkt für die weltweite Entwicklung von mehrsprachiger Sprachenpolitik.
2 Wie wird Mehrsprachigkeit durch Sprachenpolitik gefördert?
3 Nennen Sie die grundlegenden ideologischen Säulen der mehrsprachigen Sprachenpolitik.
4 Erklären Sie, wie sich die Machtverhältnisse zwischen den Sprachen in mehrsprachigen Regionen darstellen lassen.
5 Erklären Sie die beiden Bildungsprogramme ‚übergangsweise zweisprachige Erziehung‘ und ‚zweisprachige Programme‘.
2. Modellierung von Mehrsprachigkeit
Das folgende Kapitel widmet sich verschiedenen Modellen der Mehrsprachigkeit und den dadurch abgebildeten Prozessen. Dabei zeigt sich, dass frühere, an Defiziten (gegenüber der Einsprachigkeit) orientierte Perspektiven auf Mehrsprachigkeit nicht geeignet sind, den konstitutiven Charakter von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität abzubilden. Mehrsprachigkeit kann dagegen als dynamisches ökologisches System dargestellt werden, das je nach der Relevanzbewertung durch den Sprecher oder die Sprecherin oder den Lerner von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Ausdruck des Managements mehrerer Sprachen sind komplexe Dynamiken von Code-Switching und anderen Mischungserscheinungen, die pragmatische Kommunikationsbedingungen sowie bewusste und unbewusste Identitätskonstruktionen widerspiegeln (siehe hierzu auch Kapitel 5 in diesem Band). Welche Rolle die gesellschaftliche Wertigkeit der Sprachen in diesem pragmatischen und sozialkonstruktivistischen System spielt, wird anhand aufschlussreicher Ergebnisse von Migrations- und Bildungsstudien in Lerneinheit 2.1 illustriert. Ferner werden die Potenziale elaborierter Wertschätzung und Wertschöpfung von Sprachen und Konsequenzen für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik skizziert.
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