1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Er stand an seinem Ziel. Hier sollte es sich zeigen, was seine Theorie wert war. Hier sollte es sich entscheiden, wer die famose Wette gewann, er oder Signor Donati! Er war von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugt. Er war bereit, einen Eid darauf abzulegen. Aber eine Sache ist es, eine These in seinem Zimmer auszuspintisieren, in Gesellschaft seiner Schreibtischlampe und einer Flasche Barsac, eine andere, sie in der Wirklichkeit zu erproben. Um sie auf die Probe zu stellen, mußte er eine Serie von Dingen und Personen finden, die es höchstwahrscheinlich gar nicht mehr gab. Höchstwahrscheinlich, ja! Er lächelte bitter in sich hinein, während er im Geiste eine Annonce für ›Les dernières Nouvelles de Strasbourg‹ formulierte.
Gesucht: Der Schauplatz, wo ein kleines Familiendrama sich vor zwanzig Jahren abspielte! Gesucht: Zeugen dieses Dramas! Gesucht: Eine Stecknadel in einem Heuschober – noch dazu in einem Heuschober, der vielleicht schon längst verschwunden ist!
Der Träger an seiner Seite räusperte sich diskret:
»In welchem Hotel wünschen der Herr abzusteigen?«
Ja, in welchem Hotel? Das war die erste Frage. Womöglich sollte es dasselbe Hotel sein, in dem sie vor zwanzig Jahren gewohnt hatten. Aber was für ein Hotel konnte das gewesen sein? Ein Luxushotel hatte die finanzielle Lage der Familie wohl kaum erlaubt. Andererseits hatten sie sicher immer ›standesgemäß‹ gewohnt. Vor ihm stand ein Schwarm beflissener Portiers; aber die Namen auf ihren Mützen sagten ihm weniger als nichts: Hôtel de la Poste, Hôtel du Rhin, Hôtel des Vosges.
»Hören Sie einmal, mein Freund«, sagte er zu dem Träger, einem jungen, vierschrötigen Sohn des Elsaß. »Helfen Sie mir, das zu finden, was ich suche, und ich werde Sie so entlohnen, als hätte ich drei Koffer anstatt einer Handtasche!«
Der Träger schmunzelte dienstfertig.
»Was sucht denn der Herr?«
Der Doktor erklärte es. Das Gesicht des Trägers wurde immer länger und länger, er kraute sich hinter dem Ohr.
»Zwanzig Jahre!« murmelte er. »Hier hat sich in den letzten zwanzig Jahren allerhand zugetragen. Ich muß Père Anatole fragen.«
So allmählich fand er den alten Anatole, dessen Antlitz rosig wie ein Winterapfel war, mit einem Bart so weiß und wallend wie der des Weihnachtsmanns. Der Doktor wiederholte seine Darstellung, und Anatole kraute sich im Takt mit seinem jüngeren Kollegen hinter dem Ohr.
»Ein gutes, billiges Hotel, das vor zwanzig Jahren hier war«, philosophierte er. »Da war die Goldene Krone, und da war ...«
»Ein Familienhotel«, erläuterte der Doktor, »und ein standesgemäßes Hotel! Vergessen Sie das nicht.«
»Da war das Hotel Hampele, und da war das Hotel Schmitt«, grübelte Anatole weiter, »aber die sind alle beide eingegangen. Jawohl. Zwanzig Jahre, das ist eine lange Zeit.«
»Eine sehr lange Zeit«, gab der Doktor zu, der seinen Mut sinken fühlte. »Und die letzten zwanzig Jahre sind ja sozusagen doppelte Dienstjahre gewesen. Aber irgendwelche Hotels wird es doch geben, die nicht aufgelassen sind?«
Er tastete in der Westentasche und fand eine abgegriffene Note. Wie durch einen Zauberschlag glitt Anatoles Denktätigkeit in ein rascheres Tempo über. An seinen jüngeren Kollegen gewandt, sagte er mit plötzlicher Bestimmtheit:
»Da war das Hotel Turin! Das besteht noch, und das ist gerade das, was der Herr wünscht! Was?«
Der jüngere Träger nickte schwermütig, aber eine neue Note aus der Tasche des Doktors verjagte sein Zaudern rasch.
»Da ist das Hotel Turin«, sagte er. »Im Hotel Turin soll der Herr absteigen. Kein Zweifel!«
Dr. Zimmertür selbst war nicht so frei von Zweifeln, aber er schüttelte sie ab. – Warum nicht ebensogut das Hotel Turin wie irgendein anderes Hotel? dachte er und bestieg ein Auto. Sollte es sich zeigen, daß es nicht dieses Hotel gewesen sein kann, oder kann mir dort niemand die Auskünfte geben, die ich brauche, so muß ich eben nach dem Hotelverzeichnis weitersuchen.
Er sah dieses Verzeichnis, das etwa zwanzig Namen umfaßte, so melancholisch an, daß er ganz vergaß, die Umgebung zu studieren. Nun rollte das Auto vor den Eingang des Hotel Turin am Kai Schöpflin vor.
Er fand das Hotel so altväterisch, als man das Recht hatte zu erwarten, in einem Viereck um einen offenen Hof gebaut, der mit Glas gedeckt war und als Wintergarten diente. Leicht verwitterte Empiremöbel paradierten in der Halle und im Salon. Eine alte Pendeluhr aus Alabaster und vergoldeter Bronze zählte tickend die Sekunden und gedachte entschwundener glücklicherer Augenblicke. Alte Lithographien nach Winterhalter blickten von den Wänden herab – das Hotel mußte also seine fünfzig, sechzig Jahre zählen.
Eine blasse junge Dame empfing ihn. Es zeigte sich, daß sie die Wirtin war. Sie wies ihm ein Zimmer an, und er äußerte einige anerkennende Worte über die Aussicht. Dann begann er sofort seine Fragen nach dem, was ihm am Herzen lag.
»Ach, Monsieur, wären Sie doch nur ein halbes Jahr früher gekommen! Da lebte meine Mutter noch, die das Hotel vierzig Jahre geführt hat. Weder ich noch mein Mann wissen etwas von den Gästen, die wir vor zwanzig Jahren gehabt haben –«
»Und die Dienerschaft?«
»Es ist sicher niemand mehr aus dieser Zeit da, Monsieur!«
Der Doktor nickte düster. Das hatte er ja erwarten können. Was sollte er jetzt tun? Das Hotel Turin verlassen und sein Glück anderswo probieren? Das wäre natürlich das einzig Vernünftige, da er hier im Hotel keinerlei Bescheid bekommen konnte – und doch, und doch! Eine innere Stimme sagte ihm, daß sie gerade in einem Hotel wie diesem gewohnt haben müßten, ihr Vater und sie. Die junge Wirtin riß ihn aus seinen niedergeschlagenen Gedanken.
»Wie konnte ich nur Joseph vergessen!« rief sie. »Natürlich, Joseph ist doch noch da! Wenn jemand Ihnen helfen kann, Monsieur, so ist er es!«
»Wer ist dieser Joseph?« fragte der Doktor mit tickendem Herzen.
»Das ist unser Weinkellner. Er ist in einem Alter mit unseren feinsten Marken und auf gutem Fuß mit allen, aber par distance, denn er ist Abstinent.«
»Ein Weinkellner, der keinen Wein trinkt!« sagte der Doktor mit einem Lachen. »Na ja, wenn man Joseph heißt – das ist ja ein Name, der verpflichtet. Wollen Sie also Joseph bitten, zu mir heraufzukommen, Madame? Und bitten Sie ihn, die Weinkarte mitzubringen. Es kann ja sein, daß irgendein Wein von vor zwanzig Jahren ihm einen Gast aus demselben Jahrgang in Erinnerung ruft!«
Sie verschwand. Gleich darauf erschien Joseph.
Es war ein kleiner fahler Mann von fünfundfünfzig Jahren, ein Bild der Korrektheit, mit farblosem Haar und dünnem Backenbart. Er trug einen goldgefaßten Kneifer, hinter dessen Gläsern man nur schwer den Blick seiner Augen fangen konnte. Sein Auftreten und seine Stimme waren die eines Bureauchefs.
Er verbeugte sich gemessen und präsentierte ein dickes schwarzes Meßbuch. Es zeigte sich, daß das die Weinkarte war.
Der Doktor schlug Vins d'Alsace auf.
»Was halten Sie von Käfferkopf?«
»Junger Wein, etwas unsicher, aber mit Möglichkeiten«, erwiderte Joseph sofort, mit dem Tonfall eines Vorgesetzten, der sich über die Zukunftsaussichten eines Untergebenen ausspricht.
»Aha! Und Traminer?«
»Junger Wein, weniger unsicher, prononciertere Eigenschaften und größere Möglichkeiten«, erklärte Joseph mit derselben Stimme.
»Hm. Und Riquewihr?«
Joseph antwortete mit dem unpersönlichen Tonfall eines Auskunftsbureaus: »Reifer Wein, stark und aromatisch, ein wirklicher Charakter.«
Der Doktor schlug das Meßbuch zu.
»Geben Sie mir eine Flasche Riquewihr. Trinken Sie selbst ein Glas mit?«
»Ich? Ich trinke nie Wein, ich koste höchstens, aber ich schlucke nie. Niemand, dessen Beruf es ist, Weinkenner zu sein, würde je auf die Idee verfallen, den Wein zu schlucken.«
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