Sie lächelte.
»Lieber Herr Doktor, ich glaube nicht, daß ich eine einzige Erinnerung aus der Zeit habe, bevor ich sechs, sieben Jahre war!«
»So ist es mit den meisten Menschen«, gab er zu. »Von der Geburt bis zu ihrem sechsten, siebenten Jahre ist ihre Existenz wie aus ihrer Erinnerung ausgetilgt. Haben Sie je daran gedacht, wie sonderbar, wie unerklärlich, wie unlogisch das ist? Gerade die Zeit unseres Lebens, zu der unsere Sinne am frischesten sind, die Erinnerung am wenigsten überladen – gerade diese Zeit ist wie eine Serie unbeschriebener Blätter in unserem Lebensbuch. Ist das nicht mehr als wunderlich?«
Die blaugrauen Augen hingen wie magnetisiert an seinen Lippen. Er fühlte ein sehr angenehmes Kitzeln in der Brust.
»Sie haben recht!« rief sie. »Ich habe noch nie daran gedacht – aber es ist seltsam!«
»Es ist seltsam«, bestätigte er. »Aber in allerletzter Zeit haben wir begonnen, den Schleier ein wenig zu lüften. Wollen Sie nun erzählen?«
Sie folgte seiner Aufforderung. Sie war im Auslande geboren. Ihr Vater war Italiener, aus Venedig, und ihre Mutter Ungarin. Der Blick des Doktors glitt die Linien ihrer schlanken Figur entlang, und er nickte für sich selbst. Schon seit ihrer frühesten Kindheit war sie mit ihrer Familie in fremden Ländern herumgeirrt. Dadurch war sie auch die Polyglottin geworden, die sie war; sie sprach fünf Sprachen, darunter auch das mehr massive als schöne Holländisch. Von ihren Eltern erinnerte sie sich ausschließlich an den Vater; die Mutter kannte sie nur aus Erzählungen. Erinnerungen aus der Kindheit? Das war ein Gewühl von unklaren, verworrenen Eindrücken aus fremden Städten und Badeorten – da war nichts, was sie herausgreifen konnte – das Ganze floß durcheinander, und was konnte das überhaupt mit ihren Träumen zwanzig Jahre später zu tun haben?
»Erzählen Sie auf jeden Fall! Ergreifen Sie einen Faden, wie schwach er auch sein mag, und verfolgen Sie ihn! Eine Tatsache, gleichviel welche, aber eine Tatsache!«
Sie gehorchte. Sie schloß die Augen, man sah, wie sie sich anstrengte. Dann zuckte sie die Achseln und sah auf.
»Es geht nicht. Ich bekomme nur allgemeine Eindrücke zu fassen, nichts, was ...«
»Sind Sie allein mit Ihrem Vater gereist?« fragte er.
»Nein, ich hatte natürlich eine Gouvernante! Ich hatte viele Gouvernanten. Mein Vater war zu jung und zu lebenslustig – und zu stattlich –, als daß er Zeit gehabt hätte, sich den ganzen Tag mit mir zu befassen!«
»Erzählen Sie von Ihren Gouvernanten! Waren sie alt oder jung? Waren sie nett oder garstig zu Ihnen?«
»Die erste war eine Italienerin, eine Kinderfrau vom alten Schlag, eine gute Dadda, aber es wurde ihr zuviel, beständig im Ausland umherzuziehen, und sie fuhr heim nach Italien. Dann hatte ich, scheint mir, eine Schweizerin, dann eine Französin und dann eine Engländerin. Den Namen der Schweizerin weiß ich noch, den der Engländerin auch, aber den der Französin habe ich vergessen.«
Der Doktor richtete sich auf seinem Sitz ein wenig auf.
»Versuchen Sie, sich an etwas über die Französin zu erinnern.«
Sie schien ihn nicht zu hören. Sie hatte sich ebenfalls aufgesetzt und sah mit geweiteten Pupillen an ihm vorbei.
»Herr Doktor! Jetzt fällt mir etwas ein – denken Sie, das hatte ich ganz vergessen! Nein, wie eigentümlich!«
»Was ist eigentümlich?«
»Der Traum! Mein Traum, von dem ich Ihnen erzählte. Der hat mich schon einmal verfolgt, als ich klein war!«
Der Doktor ließ die Augenlider wie Vorhänge über seine Pupillen sinken. Auch sein Blick hatte Glut bekommen.
»Erzählen Sie!« sagte er mit gedämpfter Stimme. »Wann hatten Sie diesen Traum? War es wirklich damals derselbe Traum wie jetzt?«
Sie saß still. Es war offensichtlich, daß sie mit ihrem inneren Blick die Tiefen der Vergangenheit zu loten suchte – diese Tiefen, in denen wir undeutlich die Verwurzelungen erblicken, aus denen unsere Persönlichkeit langsam emporgewachsen ist, wie das Korallenriff sich durch die Abgründe des Meeres und der Zeit zum Tageslicht der Gegenwart erhebt. Plötzlich runzelte sie wie unwillig die Augenbrauen.
»Ich erinnere mich an nichts!« sagte sie unvermittelt.
Der Doktor lächelte.
»Wissen Sie, was für ein Gefühl Sie eben erst hatten?« fragte er. »Als wenn Sie in ein dunkles Gewässer hinabgetaucht wären und plötzlich gespürt hätten, wie ein klebriges Tiefseetier Ihr Gesicht streifte. Nicht wahr?«
Sie sah ihn beinahe mit Entsetzen an. Wieder fühlte er ein angenehmes Kitzeln in der Herzgegend.
»Meine liebe junge Dame«, sagte er, »es ist mein Metier, Tiefseetiere ans Tageslicht emporzuholen. Lassen Sie uns versuchen, Ihres heraufzubefördern! Es war zu der Zeit der französischen Gouvernante, als Ihr Traum zum erstenmal kam?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie widerwillig. »Es kann sein. Wir wohnten in einer fremden Stadt, einer deutschen, glaube ich, nein, einer französischen – nein, einer deutschen. Eines schönen Tages verließen wir sie Hals über Kopf – des erinnere ich mich –, und ich wurde in eine Klosterschule gebracht, und es dauerte viele Jahre, bis ich meinen Vater wiedersah. Aber in dieser Zeit kam der Traum wieder, ein ums andere Mal.«
»Und wann tauchte er dann wieder auf?«
»Vor ganz kurzer Zeit.«
Ihr Ton war knapp. Der Doktor stellte ihr noch einige Fragen nach ihrer Kindheit und den Umständen, die dem ersten Auftreten des Traumes vorangegangen waren. Ein paar der Fragen waren recht inquisitorisch, und plötzlich antwortete sie überhaupt nicht, sondern wies auf ein Buch unter den vielen, die auf dem Schreibtisch lagen.
»Marco Polo!« sagte sie in leichtem Ton. »Das war ein Buch, von dem mein Vater immer phantasierte.«
Der Doktor schnitt ein Gesicht. Die Zurechtweisung war deutlich genug! Bis hierher und nicht weiter! So waren sie, diese verwöhnten Damen, die kamen, um ihr Seelenleben analysieren zu lassen! Sowie man an einen empfindlichen Punkt rührte, jammerten sie, ganz wie wenn der Zahnarzt mit der Sonde an einen Nerv kommt. Dann gingen sie fort, beleidigt, daß man die Lücken ihrer Erinnerung nicht mit Phantasiegemälden ausfüllen wollte! Man sollte wirklich ein Scharlatan sein und es tun. Und doch hatte er von ihr etwas Besseres erwartet –
»Ja, Marco Polo!« sagte er mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Wissen Sie, wie man Marco Polo in seiner Heimatstadt nannte, meine Gnädige? Messer Milione, Junker Million, weil man fand, daß er zu unvorsichtig mit Ziffern um sich warf. Wenn Sie lange genug in Amsterdam bleiben, wird man Sie vielleicht Monna Milione nennen – ich meine Herr Heuvelinck und Ihre anderen Quälgeister.«
Sie lachte sorglos.
»Es gibt auf jeden Fall jemanden, der mich für reich genug hält, um in mein Zimmer einzubrechen«, sagte sie. »Gerade gestern, als ich nach Hause kam, fand ich, daß jemand während meiner Abwesenheit dagewesen war und alle meine Papiere durchwühlt hatte. Ein paar davon waren weg. Ich suchte es der Direktion glaubhaft erscheinen zu lassen, daß es Wertpapiere gewesen waren, und daß sie die Verantwortung für den Verlust tragen, aber da stellten sie sich taub. Sie verstehen, ich hatte gehofft, auf diese Art eine Forderung an sie zu haben. Aber es ging nicht!«
»Aber meine liebe junge Dame«, sagte der Doktor bekümmert. »Wie in aller Welt wollen Sie – wie um Gottes willen denken Sie sich – Sie können sich doch nicht ohne Gepäck auf die Straße werfen lassen – wollen Sie mir nicht erlauben, zu tun, was in meinen ...«
Er blinzelte geniert. Sie unterbrach seine gestammelten Sätze mit einem kleinen Lächeln.
»Sie sind wirklich nett!« sagte sie. »Aber machen Sie sich keine Sorgen! Wenn es sich nur um Geld handelt, das arrangiert sich schon. Das war der Wahlspruch meines Vaters, und ich habe gefunden, daß er stimmt. Man darf sich nur keine Sorgen machen. Dann geht es schief!«
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