»Aber«, begann er nochmals, »aber Sie sagten doch, übermorgen ...«
»Spätestens übermorgen werde ich ausgewiesen, ganz richtig. Darum werden Sie sehen, daß sich vor übermorgen etwas ereignet! So kommt es immer.«
»Aber«, begann er zum drittenmal.
»Sie sind wirklich zu neugierig!« sagte sie. »Wenn Sie es durchaus wissen wollen, ich habe an einige Leute geschrieben, die meinem Vater Geld schuldig sind. Mein Vater lieh nach rechts und links aus, sowie er nur einen Pfennig hatte. Ich war so kleinlich, daß ich mir in den letzten Jahren seines Lebens eine Liste über die Darlehen anlegte. Diese Liste ist übrigens eines der Papiere, die mir gestohlen wurden. Aber da hat sich der Dieb getäuscht. Ich habe eine Abschrift! Lange vor übermorgen bekomme ich von irgend jemandem Geld, Sie werden schon sehen.«
Sie lächelte. Der Doktor nickte skeptisch. Plötzlich fiel ihm etwas ein, was er beinahe vergessen hätte – sein Übereinkommen mit dem Astrologen. Er erklärte es ihr in Umschreibungen und gab ihr Signor Donatis Adresse.
Sie machte große Augen.
»Ein Astrologe! Aber ich habe ja kein Geld, um ihn zu bezahlen!«
»Das macht nichts. Das kommt auf meine Rechnung. Das gehört zu unserem Übereinkommen.«
»Ein Astrologe! Wie spannend!« wiederholte sie, und der Doktor fühlte einen Stich in seiner Brust, in der bisher die harmonischsten Gefühle geherrscht hatten. Sie erhob sich.
»Auf jeden Fall kann ich nicht Ihren ganzen Tag für ein Honorar in Anspruch nehmen, das ich nicht bezahlen kann! Danke, Herr Doktor, und sollten Sie vielleicht noch später eine Erklärung meines Traumes finden, so ...«
Er fiel ihr ins Wort.
»Bevor Sie gehen, habe ich Ihnen noch eine letzte Frage zu stellen«, sagte er. Und da sie unwillkürlich zurückwich, offenbar ein neues Verhör fürchtend, beeilte er sich hinzuzufügen: »Meine Frage ist äußerst harmlos. Haben Sie die eine oder andere Idiosynkrasie – gibt es etwas, wovor Sie einen absoluten Abscheu haben, ohne daß Sie sich selbst einen vernünftigen Grund dafür angeben können?«
Sie dachte einige Sekunden nach und fing zu lachen an.
»Ja«, gab sie zu, »das habe ich.«
»Und zwar?« fragte er mit Spannung in der Stimme.
»Vernehmen Sie mein Geheimnis!« sagte sie. »Ich kann mich um alles in der Welt nicht überwinden, Gansleberpastete aus Str... aus dem Elsaß zu essen.«
Der Doktor musterte sie aufmerksam. Ja, das war ihr voller Ernst, daran war nicht zu zweifeln. Nun nickte sie zum Abschied.
»Danke für die Mitteilung«, sagte er und geleitete sie zur Türe. »Soso, Sie können nicht ... danke!«
Drittes Kapitel.
Einige Betrachtungen und drei Abreisen
Inhaltsverzeichnis
Der Traum ist der Nachtwächter, der über unserem Schlummer wacht.
Hunger, Durst und Begierden, die uns quälen, werden auf einen Wink des Traums wie durch einen Zauberschlag erfüllt. Die peinlichen Erinnerungen, die sich aus der Vergangenheit herandrängen, steckt er im Handumdrehen in Galakleider oder phantastische Karnevalstrachten. Der Traum ist der Großwesir, der für die Ruhe des Sultans nach den Staatsgeschäften sorgt. Der Traum ist der Geist der Lampe und des Rings in einer Person.
Aber wie kommt es dann, daß wir je von einem Alptraum gequält werden? Wie kommt es, daß wir mit einem Angstschrei erwachen, mit pochendem Herzen, in Schweiß gebadet?
Auch hierfür hat die Wissenschaft eine Antwort.
Der Alptraum, so grausig er auch ist, ist nicht so entsetzlich, wie ein Blick hinab in die Tiefe unseres Wesens sein würde. Wenn es dem Gespenst nicht gelingt, alle unterdrückten und murrenden Sklaven zu dienernden Hofschranzen zu machen, so gelingt es ihm doch wenigstens, ein Laken über ihre Blößen zu werfen. Wir ahnen dunkel, was das Laken verbirgt, und winden uns unter dem Druck des Alps. Aber selten oder nie zerreißt das Laken, und sollte es im Begriff sein zu geschehen, bleibt dem Großwesir nichts anderes übrig, um unsere Lügenmajestät vor dem Anblick der andrängenden Wahrheitssager zu retten, dann – dann, ja was dann? – dann weckt er uns! Wir fliehen zurück in die Burg, wo wir mit so ziemlich unumschränkter Macht herrschen – solange wir gesund sind – zurück zu unserem ›bewußten Ich‹. Wir erwachen mit einem Schrei, und wir sagen: Gott sei Dank, es war nur ein Traum.
Der Großwesir hat seine Schuldigkeit getan. Aber wie alle Diener absoluter Monarchen hat er seinen Eifer zu weit getrieben. Denn die Ideen, die dem Angsttraum zugrunde liegen, sind noch da, und die Lügenmajestät, das bewußte Ich weiß es. Aber anstatt auf sie zu hören, sucht die Majestät ihnen mit Zeremonien das Leben sauer zu machen. Wir bekommen ›Zwangsvorstellungen‹, die ›Zwangszeremonien‹ erfordern, damit das geheimnisvolle, erschreckende Etwas, das hinter dem Vorhang ist, sein Antlitz nicht zeige! Und doch wäre nichts besser, als wenn wir der Wahrheit ins Auge sehen würden. In derselben Sekunde würde das geheimnisvolle Etwas sich in nichts auflösen, und die Angst würde verschwinden, so wie die Dunkelangst bei einem Kinde verschwindet, wenn man nur Licht anzündet.
Was bedeutet ihr Angsttraum?
Dr. Zimmertür glaubte den Nachmittag nicht besser verwenden zu können, als allein bei einer Flasche Wein in Beeldemakers Bodega darüber nachzudenken. Die Auskünfte, die sie ihm gegeben hatte, waren zu knapp und unvollständig gewesen, um eine sofortige Lösung zu ermöglichen; auf eine weitere Hilfe von ihrer Seite konnte er nicht rechnen, auf ein Honorar wohl ebenfalls nicht, und doch fuhr er fort, über das Problem nachzugrübeln.
Da waren zwei Punkte, die ihn interessierten. Erstens: warum war der Traum nach Verlauf so vieler Jahre wieder aufgetaucht? Zweitens: gab es irgendeinen Zusammenhang zwischen ihrem Angsttraum und der einzigen bewußten ›Zwangsvorstellung‹, die sie ihres Wissens hatte?
Als der trainierte Wissenschaftler, der er war, ahnte er verschiedene Möglichkeiten einer Erklärung für die erste Frage, aber die zweite spottete seiner gänzlich. Und während er sich noch mit ihr befaßte, präsentierte sich ihm plötzlich eine neue Frage: Wie hieß sie eigentlich, und wer war sie?
So lächerlich es klang, er hatte vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Und eigentümlicherweise hatte sie vergessen, ihn zu nennen.
Nichts war leichter, als ihn in Erfahrung zu bringen. Sie wohnte ja im Hôtel de l'Europe, der Doktor kannte den Portier des Hotels seit Menschengedenken, und er würde aller Wahrscheinlichkeit nach bereit sein, ihm ihre sämtlichen Geheimnisse für einen Gulden zu verkaufen.
Aber er wollte nicht in das Hotel gehen und den Portier fragen. Nein, absolut nicht. Und warum?
Weil er neugierig war wie ein Frauenzimmer, weil er wußte, daß er es war, und weil er seit vierzig Jahren einen heroischen Kampf gegen die Neugierde kämpfte!
Er trank seinen Wein aus und verließ die Bodega. Das Wetter war plötzlich unversehens umgeschlagen. Der Nebel war fort, wie von einem Himmelsstaubsauger aufgesogen; die Sonne funkelte von einem klarblauen Winterhimmel, und unter den Stößen des Nordwindes kräuselte sich das Wasser des Hafens blauschwarz. Aber an den Seiten der Kanäle lag eine zarte klingende Franse von dünnen Eisschollen.
Der Doktor sog den Nordwind in vollen Zügen ein, mit einer Wollust, die nur der ermessen kann, der in einem Sumpflande lebt. Er ging aufs Geratewohl, ohne sich umzusehen, und er war selbst äußerst erstaunt, als er sich einige Zeit später vor einem Geschäft in der Kalveerstraat stehen fand. Die Auslage war voll Pelzwaren, und über dem Fenster stand der Name de Windt in zierlichen Goldlettern. Als es ihm endlich aufging, wohin seine Füße ihn getragen hatten, brach er in ein kicherndes Gelächter aus.
»Gegen die unterbewußte Neugier kämpfen Juden selbst vergebens«, murmelte er. »Ich wollte nicht zu dem Hotelportier gehen, aber dafür stehe ich jetzt vor ihrem Pelzgeschäft. Das ist unleugbar ein Beweis, was meine Gedanken beherrscht.
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