Franz Hohler
Es klopft
Roman
Seit einer Stunde lag er im Bett und konnte nicht einschlafen. Auf dem Rücken nicht, auf dem Bauch nicht, auf der linken Seite nicht, und auf der rechten auch nicht. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Er war neunundfünfzig, und gewöhnlich war er am Abend so müde, dass er, nachdem er im Bett noch ein paar Zeilen in einem Buch gelesen hatte, die Nachttischlampe löschte, der Frau an seiner Seite einen Gute-Nacht-Wunsch zumurmelte und nach wenigen Atemzügen einschlief. Erst wenn ihn seine Blase um zwei oder drei Uhr weckte, konnte es vorkommen, dass er den Schlaf nicht gleich wieder fand, dann stand er auf, nahm das Buch in die Hand und schlich sich leise aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in seinen Arbeitsraum, bettete sich dort auf seine Couch und las so lange, bis ihm die Augen zufielen.
Er dachte an den morgigen Tag, es war ein Montag, das hieß, dass ihn eine volle Praxis erwartete. Um halb elf waren sie beide zu Bett gegangen, nun zeigten die Leuchtziffern seiner Uhr schon fast Mitternacht, und er sah seine Ruhezeit dahinschrumpfen, denn morgens um sechs würde mitleidlos der Wecker klingeln. Aufstehen und ins Arbeitszimmer wechseln, mit dem Buch in der Hand? Er fürchtete, dadurch seine Frau zu wecken, und er fürchtete ihre Frage, ob er nicht schlafen könne. Warum, würde sie dann fragen, warum kannst du nicht schlafen? Dann müsste er zu einer Notlüge greifen. Manchmal, wenn ihm ein Behandlungsfehler unterlaufen war oder wenn sich eine folgenschwere Komplikation eingestellt hatte, was zum Glück selten vorkam, stand der Patient nachts plötzlich vor ihm mit seinem ganzen Unglück und wollte ihn nicht in den Schlaf entlassen. Für solche Fälle hatte er ein Schächtelchen Rohypnol in seiner Hausapotheke, aber er hasste es, wenn er sich betäuben musste, und zudem war er mit der Dosierung nie ganz sicher. Nahm er eine ganze Tablette, schlief er zwar gut ein, hatte aber große Mühe mit dem Erwachen und musste noch lange in den Vormittag hinein mit der Wirkung kämpfen, nahm er nur eine halbe Tablette, reichte diese unter Umständen nicht zum Schlafen und gab ihm dennoch am nächsten Morgen ein dumpfes Gefühl. Es hing von der Schwere des Problems ab, ob er die ganze oder die halbe Pille schluckte.
Und heute handelte es sich um ein schweres Problem.
Schließlich stand er leise auf und ging ins Badezimmer. Er nahm seine Zahnbürste aus dem Glas, wusch es aus, füllte es mit Wasser und nahm eine Rohypnol-Tablette aus der Wandapotheke. Einen Moment lang betrachtete er sie, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, das Glas in der einen, die Tablette in der andern Hand. Im spärlichen Streulicht, das von draußen hereinfiel, ging er vorsichtig zum Schreibtisch, stellte das Glas ab, legte die Pille daneben und drückte den Schalter der Tischlampe.
Dann lehnte er sich zurück und dachte nach.
Wann genau war es gewesen? Vor 22 oder vor 23 Jahren? Er hatte es fast nicht begriffen damals, von sich selbst nicht begriffen. Nach und nach hatte er sich daran gewöhnt, dass es geschehen war; ändern konnte er es ohnehin nicht mehr, erzählt hatte er es niemandem, die fortschreitende Zeit schob es jeden Tag etwas stärker in den Hintergrund, und so hatte er es schließlich für verjährt gehalten. Heute war ihm auf einmal klar geworden, dass es eine Verjährung zwar in der Justiz geben mochte, niemals aber im Leben. Er mochte in mancher Hinsicht ein anderer gewesen sein seinerzeit, aber auf seiner Identitätskarte stand immer noch derselbe Name, Manuel Ritter, und diese seine Identität wurde jetzt aufgerufen. Er hatte anzutreten vor seiner eigenen Verantwortung, die hinter dem Gerichtspult saß und mit einem Hämmerchen auf den Tisch schlug, wenn er zu seiner Verteidigung ausholte.
Er atmete tief ein und öffnete die Schublade seines Schreibtischs. Das alles war so lange her, dass er nicht mehr genau wusste, wo er den Umschlag aufbewahrt hatte.
Er zog unter Dokumenten wie seinem Dienstbüchlein, seinem Impfausweis und seinen Arbeitszeugnissen die Kopien seiner Diplome als Arzt und als Facharzt hervor, deren Originale in seiner Praxis hingen, und legte alles auf den Schreibtisch. Als er ein Bündelchen Briefe in der Hand hielt, trat seine Krau ein und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Julia«, sagte er, »du hast mich erschreckt.«
»Schau mal an«, sagte sie, »meine Briefe.« Sie fuhr ihm mit der Hand ganz leicht über die Haare. »Beschäftigt es dich, dass unser Sohn so verliebt ist?«
»Tatsächlich«, sagte er, »es ist… es ist irgendwie eigenartig, dass wir eine ganze Generation vorgerückt sind.«
Heute hatte ihr Sohn zum ersten Mal seine neue Freundin nach Hause gebracht, von der er ihnen schon eine Weile vorgeschwärmt hatte.
»Und«, fragte sie, »was hab ich dir geschrieben?«
Lächelnd schaute sie auf die Briefe mit ihrer Schrift und den Briefmarken mit dem spanischen König.
»Das wollte ich gerade … das möchte ich lieber alleine lesen«, sagte er.
Sie legte ihm die Hand wieder auf die Schulter.
»Hoffentlich kannst du dann noch schlafen«, sagte sie.
Er griff nach ihrer Hand.
»Hast du denn auch noch die Briefe von mir?« fragte er.
»Selbstverständlich«, sagte sie, »aber vielleicht schluckst du doch besser deine Pille. Gute Nacht, Lieber.« Sie beugte sich über ihn und küsste seinen Nacken.
Er lehnte sich zurück und hielt ihren Kopf mit beiden Händen.
»Gute Nacht, Julia«, sagte er.
Als sie sein Zimmer verlassen hatte, fühlte er sich so allein, wie als Kind, wenn seine Mutter die Tür hinter sich zugezogen hatte und er im Bett die Nacht erwartete.
Dann schluckte er die ganze Tablette und trank das Glas Wasser leer.
Es waren nicht die Briefe, die er gesucht hatte.
Es war etwas anderes. Es war das einzige überbleibsel einer Geschichte, die ihm plötzlich wieder so lebhaft vor Augen stand, als sei sie gestern geschehen.
Am 5. Mai 1983 betrat Manuel Ritter auf dem Bahnhof Basel ein Erstklassabteil des Zuges nach Zürich. Sobald er zwei freie Sitze sah, stellte er sein Köfferchen auf den einen, zog seinen Regenmantel aus, hängte ihn an den Haken darüber und setzte sich dann, etwas keuchend. Er hatte sich verspätet, aber beim Betreten der Bahnhofshalle war ihm auf der großen Abfahrtstafel aufgefallen, dass der Zug, der eigentlich schon hätte weg sein müssen, doch noch nicht abgefahren war, und mit einem Laufschritt war er durch die Unterführung auf den Perron geeilt und eingestiegen.
Als sich der Wagen nun in Bewegung setzte, klopfte es von draußen an sein Fenster, und eine Frau blickte ihn an, eindringlich, fast hilfesuchend, machte noch ein paar Schritte in der Fahrtrichtung, dann war sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Das ältere Paar auf der andern Seite des Mittelgangs schaute leicht verwundert herüber, Manuel zuckte lächelnd die Achseln und schüttelte den Kopf dazu.
Dann lehnte er sich zurück, und während sich der Zug über verschiedene Weichen schob, als müsse er sich seinen Weg aus der Stadt suchen, streckte ihm von einer Häuserwand ein Cowboy seine durchlöcherten Schuhe entgegen, mit denen er meilenweit für eine Zigarette gegangen war.
Schon wurde die Minibar hereingezogen, und ein fröhlicher Südländer rief »Café, Tee, Mineral!« durch den Wagen. Manuel konnte nicht widerstehen. Obwohl er heute sein Maß an Koffein schon konsumiert hatte, ließ er sich einen Kaffee einschenken. Er bereute es schon nach dem ersten Schluck, ließ eine Weile die ganze Hässlichkeit der Autobahnverschlingungen, Schallschutzwände und Bürohochhäuser an sich vorbeiziehen, öffnete dann sein Köfferchen und holte eine Mappe mit Unterlagen heraus. Er war Hals-, Nasen-, Ohrenarzt, hatte seit drei Jahren eine eigene Praxis und kam von einem Symposium über Tinnitus. Zwei englische Ärzte hatten am Vormittag über ihre Arbeit mit Elektrostimulation berichtet, und am Nachmittag waren neue Ergebnisse medikamentöser Therapien vorgestellt und diskutiert worden. Auf beiden Gebieten hatte er wenig Ermutigendes gehört. Er schaute noch einmal die Tabellen mit den Prozentzahlen an und nahm die Stimme des Kondukteurs erst wahr, als sich dieser zu ihm herunterbeugte. Während er seine entwertete Fahrkarte zurückerhielt, wurde an ihn offensichtlich noch eine Frage gerichtet, und auf sein »Bitte?« wurde die Frage wiederholt, nämlich ob er sich noch nie den Kauf eines Halbtaxabonnements überlegt habe. Manuel murmelte, er fahre fast nie Zug, worauf ihm der Kondukteur, ein junger Blonder mit einem Ringlein im linken Ohr, entgegnete, es genügten schon drei solcher Fahrten innerhalb eines Jahres, damit es sich rentiere, und er gebe ihm hier einen Prospekt.
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