Manuel nickte und las dann statt der Tabelle den Prospekt, der ihm nebst schönsten Landschaften auch alle möglichen Sonderaktionen und Städterabatte verhieß, auf die einzugehen er keinen Anlass sah. Er fuhr mit seiner Frau und den Kindern regelmäßig in eine Ferienwohnung im Engadin, das war sein Erholungsort im Sommer und im Winter, und wenn man eine Familie mit ihrer ganzen Winterausrüstung transportieren musste, war die Bahn für diese Reisen nicht geeignet. Gestern Abend hatte er seinen Wagen zum Service gebracht, deshalb hatte er heute nach Basel den Zug genommen, aber bei seiner Heimkehr würde das Auto bereits wieder vor seinem Haus stehen, auf seinen Garagisten war Verlass.
Als er erwachte, fuhr der Zug in Zürich ein. Rasch versorgte er die ungelesene Mappe in seinem Köfferchen, ließ den Halbtaxprospekt liegen, nahm seinen Mantel über den Arm, stieg aus und begab sich dann zum Gleis 11, auf dem die Züge vom rechten Ufer des Zürichsees ankamen und abfuhren. Obwohl er in Basel mit Verspätung abgereist war, erreichte er noch den Anschluss, den er seiner Frau für die Rückkehr angegeben hatte. Gerade kam der Zug an und entließ beachtliche Menschenmengen. Es ging gegen acht Uhr abends, die Stadt stieß ihren Lockruf aus, der bis weit in die Orte der Umgebung drang und Vergnügungen versprach, die es dort draußen in dieser Dichte nicht gab, Filme, Musik, Tanz, Frauen, unberechenbares Leben.
Der Drang zur Stadt hin war größer als der, sie zu verlassen, und der Wagen, den Manuel bestieg, war halb leer. Goldküstenexpress war der Scherzname des Zuges, der aus lauter roten Wagen bestand und nur am rechten Zürichseeufer verkehrte, welches als Wohnsitz des wohlhabenden Teils der Bevölkerung bekannt war. Als Manuel und Julia geheiratet hatten, lebten sie noch in einer Dreizimmerwohnung in Zürich, doch vor drei Jahren konnten sie ein Haus in Erlenbach beziehen und gehörten somit auch zur Goldküste, ob ihnen das passte oder nicht. Vor allem Julia hatte manchmal etwas Mühe damit. Manuel schaute zum Fenster hinaus auf den Bahnsteig.
Die Frau in Basel, was hatte sie von ihm gewollt? Hatte sie ihn gekannt? Die Situation, dass ihn jemand grüßte, den er selbst nicht kannte, war ihm nicht ganz neu, manchmal handelte es sich um ehemalige Patienten, die er bloß zwei- oder dreimal gesehen hatte, und heute während der Tagung hatte ihn eine Kollegin aus seiner ersten Assistenzzeit angesprochen, die sich erst wieder vorstellen musste, bis er wusste, wer sie war. Solche Begegnungen waren ihm peinlich, er wäre gern derjenige gewesen, der die andern mit seinem Gedächtnis in Verlegenheit gebracht hätte und in dessen Hirn die Menschen, mit denen er im Leben zu tun gehabt hatte, bereitsaßen wie in einem großen Wartezimmer, so dass er sie jederzeit mit ihrem Namen aufrufen konnte.
Den Gedanken, die Frau könnte bei der Tagung gewesen sein, verwarf er bald wieder, er konnte sich an kein solches Gesicht erinnern, und auch eine Patientin ihres Aussehens kam ihm nicht in den Sinn. Dunkle Haare hatte sie gehabt, reichlich, hinten irgendwie hinaufgebunden, und ein kleines rotes Band über den Fransen. Ihre Augen? Ebenfalls dunkel, zwischen braun und schwarz, und ihr Blick war nicht nur bittend, er war auch selbstbewusst, fordernd fast, als ob es um einen Notfall ginge. Aber woher sollte sie wissen, dass er Arzt war? Eine Engadinerin, die ihn aus den Ferien kannte? Das Phänomen, dass einem ein Mensch, den man immer nur hinter dem Ladentisch oder hinter einer Empfangstheke sah, seltsam fremd vorkam, wenn er einem in Freiheit begegnete, war ihm vertraut. Dennoch konnte er die Frau weder einem Geschäft noch einem Restaurant zuordnen. Wenn sie ihn jedoch ganz und gar nicht kannte, was wollte sie denn von ihm? War ihm vielleicht etwas heruntergefallen, als er durch den Bahnhof gerannt war? Doch er vermisste nichts, und sie hatte auch nichts in den Händen gehabt.
Hätte er irgendwie reagieren können? Um das Fenster zu öffnen, war er zu verblüfft gewesen, und für eine Betätigung der Notbremse war die Episode zu wenig dramatisch. Etwas daran gefiel ihm auch, es war wohl die Tatsache, dass eine durchaus anziehende Frau, ungefähr in seinem Alter, unbedingt etwas von ihm wollte. Wäre es umgekehrt gewesen, hätte die Frau im Zug gesessen und wäre er auf dem Bahnsteig gestanden und hätte an die Scheibe geklopft, wäre es das gewesen, was man eine Anmache nannte. War es möglich, dass diese Frau ihn anmachen wollte? Was gab das für einen Sinn, da doch der Zug schon fuhr? War es purer übermut, oder war es Verzweiflung? Wurde sie verfolgt und suchte Hilfe? Sollte er gar die Polizei in Basel benachrichtigen? War sie manisch? Aus einer psychiatrischen Klinik davongelaufen? Oder hatte sie ihn einfach mit jemand anderem verwechselt?
Manuel erschrak, als es an die Scheibe klopfte. Seine Frau stand mit dem kleinen Thomas an der Hand auf dem Perron in Erlenbach, und mit ein paar Sätzen gelang es ihm gerade noch, die Tür zu erreichen und auszusteigen, bevor der Zug nach Herrliberg weiterfuhr.
»Julia«, sagte er lachend und küsste sie auf die Wange, »das war knapp.« Dann nahm er Thomas auf den Arm: »Und du bist auch gekommen, Thomi? Das ist aber lieb.«
»Miam schläft«, sagte Thomas.
»Woran hast du denn gedacht?« fragte Julia, »du warst ganz versunken.«
»An die Tagung«, sagte Manuel, »es war sehr interessant.«
Julia öffnete den Renault auf dem Bahnhofparkplatz; auf dem Rücksitz lag die einjährige Mirjam in einer Babytrage und schlief.
»Miam schläft«, sagte Thomas laut.
»Pssst«, sagte sein Vater und hielt einen Finger an die Lippen. Julia hob den Buben in sein Kindersitzchen und versuchte leise die Tür zu schließen, aber dennoch konnte sie einen kleinen Knall nicht vermeiden, der gerade stark genug war, Mirjam zu wecken. Die begann zu weinen.
»Miam wach«, sagte Thomas.
»Macht nichts«, sagte Manuel, der vorne eingestiegen war, lehnte sich über seinen Sitz nach hinten und sagte: »Mirjam, schau wer da ist! Miri, Miri, Miri!« Dazu bewegte er winkend seine Finger und zwinkerte ihr zu.
Aber Mirjam schaute nicht, wer da war, sondern beharrte weinend auf ihrem Unbehagen.
»Wir sind bald zu Hause!« rief die Mutter nach hinten und startete den Motor. Mirjam fuhr fort zu weinen.
»Miam still!« befahl ihr Thomas.
»Aber Thomas, so lass sie doch weinen, wenn sie will«, sagte Julia leicht gereizt und bat dann ihren Mann, der Kleinen den Nuggi zu geben, der bestimmt irgendwo in ihrer Trage war.
Manuel angelte mit seinem Arm über Julias Rücklehne nach hinten, ohne den Schnuller zu finden.
»Ich glaube, du musst anhalten«, sagte er.
»Ach nein«, sagte sie, »es dauert ja nicht lang.«
Mirjam krähte.
»Miam still sein!« kam es von hinten.
Manuel versuchte ein Machtwort: »Aber Thomas soll auch still sein.« Das war zuviel für diesen.
»Toma nicht still!« schrie er und begann nun ebenfalls zu weinen, trotzig und zwängelnd, und so fuhr der dunkelgrüne Wagen bergauf, mit wechselndem Motorengeräusch und stetigem Kindergeheul; Vernunft und Unvernunft waren gleichmäßig über die vier Wesen im fahrenden Gehäuse verteilt, die vernünftigen hatten beide ein Studium hinter sich und beschäftigten sich heute mit der Struktur des Innenohrs und den Lautverschiebungen vom Lateinischen zum Spanischen, und sie verstanden nicht, warum sich die unvernünftigen ausschließlich mit ihrem Missbehagen beschäftigten.
Langsam wurden sie von ihrem französischen Auto auf den schweizerischen Hügelzug hochgetragen, den der Linthgletscher vor zehntausend Jahren bei seinem Rückzug in die Berge als Seitenmoräne hatte liegen lassen und der heute übersät war mit Terrassensiedlungen, Villen und Einfamilienhäusern, über deren Zäune sich blühende Flieder-, Rhododendron- und Schneeballbüsche neigten und aus deren Gärten aufsteigende Grillräuchlein und das Brummen elektrischer Rasenmäher einen friedlichen Abend Anfang Mai verkündeten. Am frühen Morgen, als Manuel weggegangen war, hatte es noch geregnet, jetzt warfen gerade die letzten Sonnenstrahlen ihre überlangen Schatten auf Dächer, Bäume und Baugespanne, und alles lag wie frisch gereinigt da.
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