Um ihre Garageneinfahrt zu erreichen, musste man von einer ansteigenden Nebenstraße scharf links abbiegen und ein kurzes Stück steil hinunterfahren. Thomas und Mirjam, die immer noch unerlöst auf dem Rücksitz jammerten, würden sie später »das Höllentor« nennen.
Über der Einfahrt und über der bergseitigen Mauer verwehrte dichtes Busch- und Strauchwerk den Blick auf das Rittersche Wohnhaus.
Es war in den dreißiger Jahren so an den Hang gebaut worden, dass das unterste Geschoss nur die halbe Fläche der zwei oberen Etagen aufwies. Die Tiefgarage war erst später hinzugekommen, was zur Folge hatte, dass der abfallende Garten nun durch eine ebene begrünte Fläche unterbrochen wurde, die einmal ein beliebter Spielplatz der Kinder werden sollte.
Ein turmartiger Vorbau auf der einen Seite des Hauses mit Erkerfenstern in jedem Stock war ein Versuch des Architekten gewesen, den Verdacht auf Biederkeit abzuwenden. Der Balkon im zweiten Stock war etwas zu eng, ihm fehlte, und das ließ sich auch vom ganzen Haus sagen, ein Stück wirkliche Großzügigkeit. Julia hatte einmal gesagt, es sei wie ein Angestellter in einem etwas zu knappen Sonntagsanzug. Sie liebte solche Vergleiche.
Trotzdem, es bot genügend Platz für sie alle, und das hatte sie, als sie vor drei Jahren möglichst rasch etwas brauchten, überzeugt.
Sie hatten das Haus kurz nach der Geburt von Thomas gemietet, als ihnen die Wohnung in Zürich zu eng wurde. Die Besitzerin war ins Altersheim gezogen, und niemand von ihrer Familie wollte es bewohnen. Ihr älterer Sohn, der die Liegenschaft verwaltete, hatte jedoch durchblicken lassen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie diese verkaufen würden, ihre Mutter hänge momentan noch zu sehr daran, und im Mietvertrag war auch eine Klausel mit einem Vorkaufsrecht enthalten. Manuel war damals noch Oberassistent gewesen, seine Frau unterrichtete an der Kantonsschule Wetzikon Italienisch und Spanisch mit einem halben Pensum, und so war ihnen diese Abmachung sehr entgegengekommen. Für den Kauf eines Hauses hätten sie die Mittel nicht gehabt. Ein Jahr später konnte Manuel eine Praxis übernehmen, was nochmals mit Investitionen verbunden war, und zwei Jahre danach kam Mirjam auf die Welt. Nach weiteren drei Jahren war es dann soweit, dass sie das Haus erwerben konnten, aber das wussten sie jetzt, als sie auf das Tor zufuhren, noch nicht.
Julia hielt an, während sie die Garage mit der Fernbedienung öffnete, und Manuel stieg aus, um seinen Kombi zu holen, der beim oberen Eingang ihres Hauses am Straßenrand stand.
Als Manuel seinen Wagen behutsam zwischen dem seiner Frau und der Reihe von Skis und Schlitten an der Wand parkiert hatte, war Julia mit den Kindern schon ausgestiegen, und Thomas kniete neben der Trage am Boden.
»Miam still«, sagte er und zeigte seinem Vater sein Schwesterchen, das nun zufrieden am Schnuller saugte.
»Und Thomas?« fragte Manuel.
»Toma auch still.«
»Brav«, sagte Manuel und nahm die Trage mit seiner kleinen Tochter in die rechte Hand. In der linken trug er seine Mappe, über die er noch den Regenmantel geworfen hatte.
»Papi Hand geben«, verlangte sein Sohn.
Papi verwies ihn auf Mamis freie Hand, aber Thomas lehnte ab.
»Papi Hand geben«, wiederholte er und blieb stehen, während sich sein Vater schon zur Türe begeben hatte.
»Papi hat nur zwei Hände«, sagte Julia und streckte ihm ihre Hand hin, »komm mit Mami.«
Aber Thomas war offenbar nicht zu Kompromissen aufgelegt und forderte erneut Papis Hand.
Manuel fragte Julia, ob sie seine Mappe und den Regenmantel nehmen könne, und Julia antwortete, man sollte dem Kleinen nicht immer seinen Willen lassen, und er könne gewiss auch mit ihrer Hand zufrieden sein, worauf sich Thomas auf den Garagenboden setzte und seine Hand heulend zurückzog, als sie seine Mutter ergreifen wollte.
»Dann bleib halt hocken!«, sagte Julia zu ihm und ging ebenfalls zur Türe.
Manuel hatte diese unterdessen mit dem linken Ellbogen geöffnet und hielt sie mit dem Fuß auf. »Und jetzt?« fragte er seine Frau, die begann, die Treppe hochzusteigen.
Er solle wirklich hocken bleiben, sagte sie und stieg ungerührt weiter, der mache sie heute so was von fertig.
Seufzend blockierte Manuel die Tür mit seiner Mappe, ging zu seinem quengelnden Sohn und nahm ihn unsanft bei der Hand.
»So, Schluss jetzt, steh auf«, herrschte er ihn an, was dieser damit quittierte, dass er auf den Knien blieb.
Als auch eine zweite Aufforderung nichts fruchtete, schleifte ihn der Vater über einen Ölfleck, den er zu spät sah, zur Tür, welche inzwischen die Mappe an die Schwelle gedrückt hatte, während ein Stück des Regenmantels unter dem Spalt eingeklemmt war.
Auch in der Trage regte es sich, denn Mirjam hatte ihren Schnuller wieder verloren, und, durch das Gebrüll ihres Bruders angestachelt, begann auch sie wieder zu krähen.
»Julia!« rief Manuel die Treppe hinauf, »kannst du nicht schnell kommen?«
Aber Julia machte keine Anstalten zu kommen, gab nicht einmal Antwort auf seinen Hilferuf, der irgendwo in der Dreistöckigkeit des Hauses verloren gegangen war.
Und so schleppte der Oto-Rhino-Laryngologe seine beiden kleinen Feinde der Vernunft allein die Garagentreppe hoch und fragte sich, wie das alles gekommen war und was er sich da eingehandelt hatte auf seinem Weg der medizinischen Erkenntnisse, der Forschung und der Heilung.
Es war etwa eine Woche später, und ein anstrengender Tag näherte sich seinem Ende. Manuel hatte sich in Herrn Dr. Ritter verwandelt, hatte in Hälse, Nasen und Ohren geschaut, hatte entzündete Stimmbänder, gekrümmte Nasenscheidewände und gerötete Mandeln begutachtet, Audiogramme erstellt, Antibiotika verschrieben, einen Hörsturz behandelt, einen Tinnitus besprochen und ein Kehlkopfkarzinom entdeckt und war dabei in Rückstand auf seinen Stundenplan geraten. Gerade hatte er in seiner letzten Konsultation des Nachmittags eine schwerhörige alte Patientin wegen eines Hörapparats zur Hörberatung weitergewiesen, mit der er zusammenarbeitete, als Frau Riesen, seine Praxishilfe eintrat, bereits in der Straßenkleidung, und ihn fragte, ob es in Ordnung sei, wenn sie jetzt in ihre Weiterbildung gehe. Selbstverständlich, sagte er, es sei ja niemand mehr da.
Doch, sagte die Arztgehilfin, gerade sei noch eine Frau gekommen, die sich nicht habe wegschicken lassen. Sie wolle ihm von der Tinnitus-Tagung etwas bringen, es dauere nicht lang, habe sie gesagt, und sie sitze jetzt im Wartezimmer. Annette Riesen war die jüngere seiner beiden Praxishilfen, eine mädchenhafte Frau mit einem Pagenschnitt, die immer lächelte und etwas Mühe hatte, die Autorität, die ihrer Stelle zukam, auch auszuüben.
Dr. Manuel Ritter war erstaunt. Ob das eine Pharmavertreterin war, die ihm das Medikament mit der bescheidenen Erfolgsquote anhängen wollte? Oder wollte sie ihn dazu bewegen, bei weiteren Applikationsversuchen mitzumachen? Jedenfalls war er entschlossen, auf nichts Derartiges einzugehen.
Er übergab seiner alten Patientin den Zettel mit der Adresse der Hörberatung, die er in Blockschrift geschrieben hatte, begleitete sie in den Korridor, half ihr in den Mantel, verabschiedete sich und öffnete ihr die Tür.
Dann ging er zum Wartezimmer, das offenstand, und erschrak.
Unter seinen goldgerahmten eidgenössischen Diplomen saß, mit übereinandergeschlagenen Beinen, eine Frau in einer leichten, hellen Bluse und einem schwarzen Jäckchen, mit einer üppigen Halskette, einem roten Stirnband und nach hinten aufgebundenen Haaren, und es war ohne Zweifel die Frau, die in Basel an die Scheibe seines Zugs geklopft hatte. Da saß sie und schaute ihn an, mit denselben dunklen Augen und mit demselben eindringlichen Blick.
Er zögerte einen Moment, dann sagte er, immer noch unter der Tür, »Guten Tag, Frau …«
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