1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Der Doktor bekam seinen Riquewihr. Während Joseph die Flasche entkorkte, brachte er das Gespräch auf entschwundene Zeiten, genauer gesagt auf die Zeit vor zwanzig Jahren. Es erwies sich als durchaus nicht schwer, Joseph die Zunge zu lösen; im Gegenteil. Kaum war eine Frage gestellt, als auch schon die Antwort erfolgte, kurz und trocken, aber klar und gerade zur Sache. Allmählich wurden die Antworten jedoch ausführlicher, ohne daß Joseph etwas von seiner Reserve verlor. Der Doktor rieb sich die Hände. Das war ja der ideale Zeuge. Das war ein unerwartetes Geschenk von oben für jemanden, der in einem Heuhaufen nach Stecknadeln suchte. Schließlich stellte er seine entscheidende Frage:
»Hören Sie mal, Joseph, Sie haben doch ein so wunderbares Gedächtnis. Erinnern Sie sich an einen Grafen di Passano, der hier in der Stadt wohnte, so etwa vor zwanzig Jahren? Das heißt, ich weiß nicht bestimmt, daß er in der Stadt wohnte, aber auf theoretischem Wege bin ich –«
Joseph unterbrach ihn mit einem kurzen Kichern.
»Sie haben richtig geraten! Er wohnte hier!«
»Ist das wahr?« stammelte der Doktor ein wenig bleicher als gewöhnlich. »Sind Sie ganz sicher? Wohnte er –«
»Er wohnte hier im Hotel«, schnitt Joseph kurzweg ab. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich an ihn erinnere.«
Die Finger des Doktors griffen nach der Westentasche.
»Erzählen Sie, Joseph, erzählen Sie alles, woran Sie sich erinnern, hören Sie! Sie wissen nicht, was das für mich bedeutet. Ich hatte gar nicht zu hoffen gewagt, daß ich jemanden finden würde, der sich an die Dinge aus jener Zeit erinnert. Aber das Glück wollte es, daß ich Sie treffen sollte, und –«
Joseph ließ die Note in die Hosentasche gleiten mit der Miene eines Bureauchefs, der eine Bestechung annimmt und sich dessen schämt. Der Doktor brauchte seine Willigkeit nicht weiter anzuspornen. Er erzählte in einem einzigen Redestrom mit kleinen Pausen zwischen den Sätzen, sein Blick war so fern, als weilte er zwanzig Jahre weit weg zu Besuch in einer längst entschwundenen Welt.
»Passano!« wiederholte er. »Ich erinnere mich an den Namen, und ich erinnere mich an den Mann, als ob es gestern gewesen wäre. Es war ein kleiner, dicker Italiener –«
»Klein und dick war er?« unterbrach der Doktor, der an ihre Erscheinung dachte. »Ich hatte ihn mir als einen hohen schlanken Offizierstypus vorgestellt –«
»Er war klein und dick«, stellte Joseph fest. »Er nannte sich Graf, aber ob er auch einer war –«
»Er war es«, versicherte der Doktor. »Das weiß ich ganz bestimmt. Es war ein distinguierter Typ, nicht wahr, wenn er auch dick war?«
»Er sah aus wie ein Opernsänger«, sagte Joseph kurz, »und ich erinnere mich ganz genau, daß er ein Engagement bei der Oper anstrebte, als er hier war. Da das nicht zustande kam, bat er, im Hotel singen zu dürfen, aber davon wollte der Direktor nichts hören, übrigens machte er ja ohnehin schon Krawall genug. Seine Freundin –«
»Joseph!« flehte der Doktor. »Sind Sie sicher, daß Sie ihn nicht mit irgendeinem anderen verwechseln?«
Der Kellner schien beleidigt.
»Wenn Monsieur nicht glauben, was ich sage«, begann er, »so hat es ja keinen Zweck, daß ich erzähle, übrigens kann das ganze Hotel bezeugen, daß mein Gedächtnis –«
»Verzeihen Sie mir«, bat der Doktor. »Es ist nur das, daß ihre Tatsachen so schlecht zu den Theorien passen, die ich mir auf eigene Faust aufgebaut habe – aber das ist natürlich um so schlimmer für die Theorien. Fahren Sie fort, Joseph! Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.«
»Seine Freundin«, fuhr das mnemotechnische Phänomen sogleich fort, »war Tänzerin oder so etwas Ähnliches. So sah sie wenigstens aus. Sie zankten sich Tag und Nacht. Monsieur wissen vielleicht, wie es klingt, wenn Italiener sich zanken? So, als ob die Welt untergehen sollte, nicht wahr? Natürlich konnten wir Leute dieser Sorte nicht hier wohnen lassen. Ich glaube, sie blieben eine Woche. Die Rechnung bezahlten sie natürlich nicht, und so kündigte ihnen der Direktor. Seither habe ich sie nie mehr gesehen. Aber ich vergesse sie nicht, und wenn ich hundert Jahre alt würde.«
Er verstummte.
»Und die Tochter?« fragte der Doktor.
»Die Tochter? Welche Tochter?«
»Der Graf hatte ein kleines Töchterchen von vier, fünf Jahren, ein schönes Kind, das eine ungewöhnlich schöne junge Dame zu werden versprach und die auch – aber das tut nichts zur Sache. Erinnern Sie sich nicht an irgend etwas über diese Tochter?«
»Passano hatte keine Tochter«, sagte der Kellner mit einem trockenen Wiehern. »Leute wie er reisen nicht mit eigenen Töchtern herum, nur mit denen anderer Leute.«
»Keine Tochter!« rief der Doktor und griff sich an die Stirn. »Aber das ist ja unmöglich! Er muß ein kleines Töchterchen gehabt haben! Hören Sie!«
»Dann hatte er sie anderswo einquartiert«, erwiderte der Kellner kalt. »Hier hat sie nicht gewohnt. Soviel steht fest.«
»Ja aber –«
»Ich bedaure, Monsieur, aber ich habe alles gesagt, was ich weiß. Sonst noch etwas gefällig? Dann –«
»Nein, danke«, sagte der Doktor niedergeschlagen. »Danke für Ihre Mitteilungen, wenn sie auch nicht gerade –«
Er sprach den Satz nicht zu Ende. Der Kellner zog sich zurück, und er konnte sich ungestört seinen Gedanken hingeben. Sie waren nicht gerade überschäumend. Seine ganze, mühsam aufgebaute Theorie lag in Trümmern. Sie war zusammengestürzt durch einige Worte des Mannes mit dem wunderbaren Gedächtnis, so wie die Mauern Jerichos durch einen einzigen Posaunenstoß fielen. Er hatte sie auf Worte aufgebaut, auf ihre halb widerwillig abgegebenen Erklärungen, und sie war durch Worte gefallen. Seine Arbeit war vergeblich gewesen, und das war bitter, aber da war noch etwas anderes, das er fast noch bitterer empfand. Es war die Gewißheit, daß er seine Wette verlieren würde, die famose Wette mit dem Astrologen in der Valkenierstraat. Der hatte es gut! Er brauchte nicht an das unzuverlässige Gedächtnis und die halb wahren Angaben eines Weibes zu appellieren – es gab ja Leute, die behaupteten, daß die Frauen sogar in der Hypnose lügen –, er konnte sich an höhere, unbestechliche Zeugen halten, an die ewigen Sterne selbst! Mit aller Sicherheit würde er derjenige sein, der die Wette gewann! Mit aller Sicherheit mußte sich der Doktor mit dem beklemmenden Bewußtsein aus der Affäre ziehen, von einem Astrologen besiegt worden zu sein – von einem, den die Welt gemeiniglich einen Scharlatan nannte. Besiegt von einem Scharlatan! Was war er dann selbst –?
Er wurde aus seinen düsteren Betrachtungen gerissen. Es klopfte an die Türe.
»Herein!« rief er.
Ein Pikkolo erschien mit einem Brief. Er stutzte leicht. Ein Brief an ihn hier in Straßburg! Dann fiel ihm ein, daß er ja seine Post aus Amsterdam nach Straßburg postlagernd dirigiert und die Wirtin gebeten hatte, sie holen zu lassen. Er öffnete den Brief, las ihn in einem Zuge und blieb regungslos stehen.
Er kam aus Venedig und war ihm aus Amsterdam nachgesandt worden. Es war die Antwort auf sein Telegramm an den Freund in der Lagunenstadt, Dr. Triulzi. Der Pikkolo zog sich nach wohlverrichtetem Auftrag zurück. Ein Ruf des Doktors hielt ihn an.
»Einen Augenblick, junger Freund! Willst du mir einen Gefallen tun – willst du mir den Gefallen tun – warte einen Augenblick –, ich muß nachdenken!«
Er flog noch einmal den Brief durch. Wie immer, wenn er scharf dachte, entzogen sich seine Gesichtsmuskeln ganz seiner Kontrolle, und seine Grimassen hätten einem stärkeren Herzen als dem des Pikkolos Schrecken einjagen können. Plötzlich sah er dem Pikkolo ins Gesicht, und die Grimassen hörten auf.
»Ja, junger Freund, willst du mir einen extrastarken Kaffee bestellen und Joseph bitten, mir noch eine Flasche Wein zu bringen!«
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