Während er sprach, war in den Pupillen des Weinkellners langsam ein Licht aufgeglommen. Nun hob er beinahe feierlich die Hand und stammelte mit Eifer in der Stimme: »Herr Doktor, jetzt erinnere ich mich! Ich erinnere mich, Herr Doktor!«
»Nun, dann erzählen Sie«, sagte Dr. Zimmertür, und Joseph gehorchte. Er erzählte langsam und mit Schwierigkeit, seine frühere Suada war ihm gänzlich abhanden gekommen, aber aus seinen Worten leuchtete die Wahrheitstreue. Und was er zu erzählen hatte, war derart, daß die Augen des Doktors sich vor Spannung weiteten und vor Befriedigung glänzten. Er warf die ganze Zeugenaussage Josephs stenographisch aufs Papier. Mehr als einmal im Laufe der Erzählung ging der Blick des Kellners zu der Weinflasche, die er heraufgebracht hatte; aber nicht eher, als bis er ganz fertig war, ließ sich der Doktor von dem stummen Flehen in seinem Blick erweichen. Er bekam zwei Gläschen. Dann öffnete der Doktor die Türe. Mit einem lauten Stöhnen, eines Mannes würdig, der aus einem Kater des vorigen Jahrhunderts erwacht ist, erhob sich Joseph aus dem Fauteuil und wankte hinaus.
Der Doktor riß das Fenster auf und blieb in tiefem Sinnen davor stehen. Das Wetter war umgeschlagen; der Himmel war tiefblau, und ein linder sternklarer Frühlingsabend senkte sich über die Stadt an der Ill. Er sog die Luft in tiefen Zügen ein.
»Ich hatte also doch recht«, murmelte er. »Die ganze tragische Episode ist klar. Insofern ist auch ihr Traum gelöst, und ich könnte ihr das Resultat darlegen, wenn ich wollte. Aber etwas sagt mir, daß noch mehr dahinter steckt, etwas, das ich noch nicht weiß. Seine Gewohnheiten interessieren mich! Joseph sagt, daß er Tag für Tag in der Bibliothek saß! Joseph schwört darauf bei allem, was ihm heilig ist. Aber was konnte ein Mann wie der Graf in der hiesigen Bibliothek studieren? Das gedenke ich morgen herauszubekommen!«
Er leerte auch die zweite Flasche, die Joseph heraufgebracht hatte. Er glaubte, ein Recht dazu zu haben. Nicht jeden Tag findet man eine Stecknadel in einem Heuschober wieder.
Als er zum Mittagessen herunterkam, erwarteten ihn zwei Sensationen.
Die eine war eine Mitteilung von Madame, daß Joseph plötzlich verschwunden war, ohne gekündigt zu haben. Was war das für ein Geist, der heutzutage in die Dienstleute gefahren war? Ein alter treuer Diener, der nie einen Tropfen berührte. Was hatte man da erst von den anderen zu erwarten?
»Fassen Sie sich, Madame«, sagte der Doktor, »er kommt schon morgen oder übermorgen wieder. Man bricht nicht so leicht mit dreißigjährigen Gewohnheiten!«
Als er sich an den Tisch setzte, der für ihn reserviert war, kam die zweite Sensation.
Drei Tische davon entfernt saß der junge Mann mit dem sonderbaren Aussehen – der Mann, der der Gräfin di Passano in Amsterdam vor Heuvelincks Antiquitätengeschäft nachspioniert hatte.
Fünftes Kapitel.
Bibliotheksstudien
Inhaltsverzeichnis
Als Dr. Zimmertür am nächsten Morgen erwachte, hatte er jedoch den jungen Mann aus Amsterdam vollständig vergessen. Zwei Flaschen Riquewihr als Aperitif und eine Flasche Châteauneuf-du-Pape zum Speisen schenken einen gesunden Schlummer und ein Vergessen, des dunklen Lethe würdig.
Das Wetter war an diesem Morgen strahlend; der Frühling hatte über den ganzen vogesischen Frontabschnitt gesiegt; die Fensterscheiben und Kupferdächer funkelten unter einer heißen Sonne, und in der Ferne stiegen die gotischen Spitzbogen des Straßburger Münsters wie eine Orgelkantate zum blauen Himmel auf. Sowie der Doktor mit seiner Toilette fertig war, eilte er dem Illkanal entlang der Place de la République zu, wo die Bibliothek lag.
Diese präsentierte sich als ein massiver Bau aus der deutschen Zeit, gegenüber dem ehemaligen kaiserlichen Palast gelegen. Das Reisehandbuch gab an, daß sie nahezu eine Million Bände umfaßte. Dr. Zimmertür ging hastig die Eingangstreppe hinauf, gab seine Überkleider ab und begab sich in den großen Lesesaal.
Was er brauchte, war ein Beamter mit wenigstens zwanzig Dienstjahren. Denn daß der Ausleihkatalog aus jener Zeit noch erhalten sein sollte, war wohl kaum anzunehmen! Er wendete sich mit einer Frage an den ersten Beamten, den er sah. Die Antwort bestätigte seine Befürchtungen: der Ausleihkatalog wurde höchstens fünf Jahre aufgehoben.
Und war noch irgendein Bibliothekar aus der Zeit vor zwanzig Jahren da?
Kaum – der Krieg hatte in Straßburg allerhand Veränderungen herbeigeführt, und er hatte auch diese stille Freistatt der Musen nicht verschont. Viele Beamte waren im Krieg gefallen, andere hatten es vorgezogen, das Vaterland zu wechseln. Aber halt! Es war noch eine Reliquie von Anno dazumal da, ein festes Inventarstück konnte man sagen – Monsieur Halberlé.
War es möglich, Monsieur Halberlé zu sprechen?
Das war ganz sicher unmöglich. Monsieur Halberlé war von seiner gewöhnlichen Arbeit in Anspruch genommen.
Aber ließ es sich nicht denken, daß er sie für einen Augenblick unterbrach?
Sie unterbrechen? Eine Arbeit unterbrechen, mit der er seit dreißig Jahren Tag und Nacht beschäftigt war? Ausgeschlossen! Monsieur Halberlé war überdies ungemein irritabel. Es war schon keine angenehme Aufgabe, sein Zimmer zu betreten, ohne ihn zu unterbrechen. Beides zugleich zu wollen, war geradezu ein Wagestück. Konnte man Monsieur in anderer Weise zu Diensten stehen?
Dr. Zimmertür dachte nach. Wieder stand er vor einer Türe, die in die Vergangenheit führen konnte. Gestern hatte die Türe Joseph geheißen, heute hieß sie Halberlé. Joseph hatte ihn auf Irrwege geführt, aber er hatte zum richtigen Weg zurückgefunden und war mit Josephs Hilfe so weit vorgedrungen, als er konnte. Nun mußte er ein Mittel finden, Monsieur Halberlés Herz aufzuschließen. Wie mochte wohl sein Sesam lauten?
»Darf ich fragen, worin Monsieur Halberlés Arbeit besteht?« sagte er zu dem jungen Beamten. Zu seiner Verwunderung konnte dieser nur schwer seine Heiterkeit unterdrücken.
»Aber bitte«, erwiderte er. »Es ist ja kein Geheimnis. Monsieur Halberlé beschäftigt sich seit dreißig Jahren ausschließlich mit einer Sache, nämlich alle jene Stellen der Weltliteratur, in denen die Elsässer Weine erwähnt werden, zu sammeln und zu kommentieren! Das ist seine große Arbeit, das ist seine Lebensaufgabe!«
Der Doktor lächelte selbst.
»Ist das möglich?«
»Es ist buchstäblich wahr. Monsieur Halberlé ist der glühendste Patriot im Elsaß.«
»Beim Bacchus!« rief der Doktor. »Er hat recht! Kann man seiner Heimat eine schönere und kindlichere Huldigung darbringen? Er ist also ein eifriger Anbeter des Gottes der Trauben?«
»Weit gefehlt! Schon vor vielen Jahren hat ihm sein Arzt verboten, Wein zu trinken. Aber so wie Dante seine Jugendliebe Beatrice niemals vergaß, vergißt Monsieur Halberlé die Jahre nicht, als er noch Elsaß' Weinen durch die Tat huldigte, und so wie Dante ist er seiner Liebe treu geblieben.«
»Das ist schön«, murmelte der Doktor, »das ist schön. Aber was das betrifft, daß er den Wein, den er verherrlicht, nicht trinken sollte, so habe ich da meine leisen Zweifel. Ich traf gestern einen Weinkenner, der dasselbe behauptete, der aber ...«
Der Beamte begann ungeduldig zu werden.
»Kann ich sonst irgendwie zu Diensten stehen?« fragte er. Die Gedanken des Doktors drehten sich im Kreise, auf der Jagd nach einer Idee. Er wollte, er mußte dieses einzige Bindeglied der Bibliothek mit der Vergangenheit sprechen. Aber wie sollte er es anstellen? Überredung half da nichts, das sah er voraus. Ein Empfehlungsschreiben? Wo sollte er eines hernehmen? Und würde Monsieur Halberlé einem solchen irgendwelche Beachtung schenken? Kaum anzunehmen! Er kannte diese monomanen Typen; alles, was außerhalb ihrer Interessensphäre lag – »Heureka!« Er hatte es! Man mußte eben an diese Interessensphäre appellieren.
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