Nur diese stille und noch halbgefrorene Natur beruhigt ihn, gibt ihm ein Gefühl des Trosts, den Hauch einer Geborgenheit, er fühlt sich nicht mehr allein und verlassen. Er hat einiges erreicht, er hat eine Familie, noch. Ein Haus, ein bisschen Vermögen, einen Platz am See, eine kleine Agentur mit einem Partner. Er erzählt und verkauft Geschichten oder er hilft, diese zu verkaufen. Er ist müde, er fühlt sich ausgelaugt, Routine plagt ihn. Obwohl er alles hat, was er offensichtlich zum Leben braucht, reicht es nicht.
Hier in der Lodge, ohne Wochenend- und Familienroutine, ohne Männerfreundschaften und Familiengeplauder. Ohne Gespräche über Menschen, die es geschafft haben, oder über jene, die es nicht mehr schaffen, deren Leistungsbereitschaft nachgibt, die sich zurückziehen, ihre Jobs verlieren, sich verschulden, nicht mehr mitgehen und nicht mehr mitkommen. Nun sitzt er allein da und Zweifel ziehen auf wie der Bodennebel im Herbst.
Am nächsten Morgen bereitet John ein Solo-Frühstück vor, vom Fenster aus sieht er zwischen den Birken hindurch den See glitzern. Dann setzt er sich an den Computer und sucht Flüge nach Europa.
Nach einem langen Flug und einer kurzen Nacht erscheint John der Aufwand absurd. Apathisch und verloren blickt er aus dem Zugfenster und muss noch einmal daran denken, wie er der Agentur mitgeteilt hatte, dass er spontan anreisen werde, nämlich schon in ein paar Tagen – tatsächlich, es ist sicher das Vernünftigste. Aber die Flugkosten, ist das nicht doch ein bisschen viel Aufwand? – Aber wie stellen Sie sich vor, soll ich das sonst klären? Sie haben es mir ja selbst geraten.
Die Landschaft ist er nicht gewohnt, so kleinteilig und ein wenig zu schön erscheint sie ihm, einfach zu perfekt, während seine Gedanken an zu Hause durch seinen Kopf kreisen, bis er in dieser Stadt einfährt, wo er vorläufig stoppen und umsteigen wird. Er war mit dem Zug aus München gekommen. Irgendwo muss die Grenze gewesen sein, als er Wiesen, Flüsse, Bäche, Straßen, Häuser passierte. Aber wo war diese Linie? Als er die Landschaft mit übermüdeten Augen zur Kenntnis nimmt, erscheint ihm alles fremd, er fühlt sich merkwürdig deplatziert. Ein skurriler Ausflug. Zweifel schleichen sich heran.
Was soll ich mit diesem alten Haus, in einer Gegend, die sie verlassen hat, über die sie, wenn überhaupt, nur schlecht geredet hat, zu der ich keinen Bezug habe?
Sogar Kaufinteressenten hatte es gegeben, so seine Mutter damals. Aber dann ist die Großmutter gestorben, dann der Unfall der Eltern, und nun die Erbschaft, die ihm ein Notar vor wenigen Wochen erklärt hatte. Bei nächster Gelegenheit einfach verkaufen, dachte er noch.
Dann hatte er nicht mehr daran gedacht. Bis zum Anruf.
John ist mit etwas konfrontiert, das er schwer greifen kann, womit er nicht das Geringste zu tun hat.
Auf dem Bahnhof überlegt er die Weiterreise. Er entscheidet sich dafür, kein Leihauto zu nehmen. Er hatte gehört, man könne gut mit dem Zug fahren und die Landschaft betrachten. Warum eigentlich nicht? Er denkt, dass er sich Zeit lassen kann, dass er genug Zeit hat, es zieht ihn nicht zurück. Er beschließt, die Sache langsam anzugehen, sich Zeit zu nehmen für Bus und Zug, für die Gegend. Vielleicht war er in den letzten Jahren ohnehin zu schnell gewesen, zu hastig, zu eingespannt. Vielleicht hatte er auf diese Weise vieles übersehen, nicht mehr wahrgenommen.
Hat er wieder zu viel vor? Lass dir Zeit, lass los, hör zu, schau hin und warte, was kommt.
Er erkundigt sich am Schalter, wie er wohl ins Ausseerland kommen würde. Es scheint komplizierter zu sein, als er sich das vorstellt.
Also, Sie fahren mit dem nächsten Zug, oder besser, dem übernächsten, dann steigen Sie um, sagt der Mann am Schalter. Dann warten Sie auf den Anschlusszug ins Salzkammergut. Und dann …
Und dann?
Ja, dann, meint er zögernd, dann gibt es leider nur folgende …
Der Mann am Schalter schaut auf den PC und sucht …
So lange?
Ja, es sind ausschließlich Regionalzüge, die bleiben fast alle überall stehen.
Als er die Gegend Stück für Stück, von Bahnhof zu Bahnhof durchquert, denkt er an alles andere als an diese besondere Landschaft, auf die fortwährend von irgendjemandem hingewiesen wird, wenn er umsitzende Fahrgäste sprechen hört. Hier der Traunsee, zuerst von der Gmundner Seite, dann von Altmünster und Traunkirchen aus gesehen – ah, der Traunsee, schau –, dann von der dunkleren Ebenseer Seite. Dann dieser Hallstättersee – schau, der Hallstättersee –, wo asiatische Frauen und Männer an einem winzigen Bahnhof entzückt aus dem Zug springen und zur Fähre laufen. So eng, so dunkel, so spektakulär. Berge, die sich vom romantischen Anblick aus der Ferne zu steinigen Monstern in unmittelbarer Nähe verwandeln, manchmal erhaben, manchmal bedrohlich, lästig, steinig.
Was tun all die Leute hier?
Wie soll er sich das vorstellen, was in diesen Gegenden vor über 60 Jahren geschehen sein mochte, aus der seine Großmutter ausgewandert ist? Es fällt ihm schwer, sich ein Bild davon zu machen, was in all diesen Postkartenlandschaften alles möglich gewesen war. Aber er hatte davon gelesen.
Während die Ansichten an ihm vorbeiziehen, denkt er an seine Frau, seine Lage, seine Anreise, seine Flucht. Er ist müde, die Tageszeit stimmt irgendwie nicht. Sein Körper will schlafen.
Als er aussteigt und am Bahnhof herumschlurft, herumsteht und herumwartet. Ein schattiger Platz, hohe Gesimse, gelbe Wände eines altehrwürdig erhaltenen Gebäudes, aus einer anderen Zeit gefallen. Weiße Aufschriften auf eisenbahndunkelblauem Hintergrund. Eine kühle Dunkelheit legt sich vom steilen Berghang auf den Wald knapp über der Böschung oberhalb des Bahnhofs, mit mehreren nebeneinanderliegenden Schienen, mit einer Lok, die im Hintergrund wartet, mit roten Kontakt- und Signallichtern und einem knarrenden Lautsprecher mit blecherner Durchsage.
Er hatte sich dieses Haus noch gar nicht vorgestellt, vielleicht ein Holzhaus, ein sogenanntes Alpinhaus, er wird sehen. Am Bahnhof telefoniert er mit der Agentur, weil er eine Unterkunft braucht. Er hatte gar nicht daran gedacht, die Agentur auch nicht. Er bittet den Mitarbeiter, sich darum zu kümmern.
Aber Sie haben ja ein Haus.
Schon, aber ich weiß nicht, in welchem Zustand.
Wenn Sie meinen. Wir besorgen ihnen ein Zimmer, fürs Erste.
Dann fragt er am Bahnhof, wie er zum See komme.
Mit dem Bus? Der fährt erst in einer Stunde.
Da kann ich ja zu Fuß gehen, nein, mit dem Taxi. Gibt es hier ein Taxi?
Er gibt auf, als er einen verständnislosen Blick erntet. Dann hängt er sich seine beiden Rucksäcke um, geht einfach los und streckt den Daumen hinaus. Die meisten deuten ihm einen Vogel, bis plötzlich doch jemand anhält.
Den möchte ich kennenlernen, der hier autostoppt, meint der Fahrer. Sie sind wohl nicht von hier?
Nein, wirklich nicht.
Wo müssen Sie hin? Aha! Das trifft sich gut. Ich nehm Sie mit.
Der Mann lacht und lässt ihn nach einer Viertelstunde irgendwo in der Ortsmitte aussteigen.
Die Häuser fallen ihm auf, die Fassaden, viel Holz, Veranden, kleine Fenster, Geschnitztes, Blumen, die schöne Lage. Aber er muss alles erfragen, ihnen alles aus der Nase ziehen, bis er findet, was er sucht, bei der örtlichen Bank, die gleichzeitig das Immobilienbüro beherbergt. Dort trifft er auf seine Kontaktperson, mit der er bereits am Flughafen und zuvor telefoniert hatte.
Die scheinen überrascht zu sein, dass er plötzlich vor ihnen steht. Er, dem sie lange Zeit vergeblich nachgelaufen waren. Nun braucht er sie. Ein wenig hilflos stehen sie sich gegenüber.
Hier bin ich!
Aha. Sie sprechen gut Deutsch.
Ich bin damit aufgewachsen, zumindest zu Hause bei der Familie.
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