Die merkwürdige Freiheit der fremden Befreiung macht Neues und Ungeahntes möglich, vor allem auch für junge Frauen wie sie. Es scheint eine Freiheit zu sein, die es lange nicht mehr gegeben, im Grunde noch nie gegeben hat. Ein neues Lebensgefühl. Bis die vom Krieg Heimgekehrten und vom Untergang des Reichs Enttäuschten, bis die von der neuen Macht Entmachteten und Zurückgesetzten wieder in Positionen kommen, sich neu formieren, weil man sie braucht. Bis sie beginnen, sich zurückzuholen, was ihnen ihrer Auffassung nach zusteht. Nachdem auch sie, als ehemalige Funktionsträger des gescheiterten Reichs, ihren Krieg überlebt hatten, sich den neuen Verhältnissen anpassen und der neuen Ordnung andienen.
Allmählich geraten Gerüchte über ihren gefallenen Mann in Umlauf, ohne dass Klarheit darüber herrscht, woher sie stammen, aber so ist das Wesen von Gerüchten. Gelegentlich werden sie von alten Gegnern bewusst gestreut. Gelegentlich werden sie von der weggezogenen Schwägerin, aber vor allem von deren früheren Freundinnen im Dorf unter der Hand verbreitet.
Er sei ein Verräter am Volk, an der Volksgemeinschaft gewesen, ein politisch Verdächtiger, gewiss auch unter heutigen Umständen, denn vor allem sei er ein Kommunist, ein Feind der Freiheit und der Menschheit gewesen. Man höre so einiges. Und sie, seine Frau, die Frau dieses Mannes, erschleiche sich noch dazu ein Erbe. Die Gesinnung ihres Mannes war bekannt gewesen, wie die anderer im Ort auch. Aber aufgrund der Tatsache, dass sich viele politische Gegner in ihrem Dorf, wie in den meisten kleinen Dörfern, persönlich kannten, waren Gegensätze nicht an die große Glocke gehängt worden und hatten letztlich keine gefährlichen Konsequenzen gehabt. Denn in der Regel waren das Zusammenleben und ein Miteinander-Auskommen wichtiger. Aber Drohungen gegen ihn waren doch stets da.
Sie solle froh sein, dass er wenigstens ehrenhaft gefallen sei, sonst wäre sie vielleicht die Witwe eines ehrlosen Deserteurs geworden.
Man habe ihn allerdings nicht ehrenhaft, sondern verbrecherisch und verantwortungslos in diesen ehrenhaften Tod getrieben, schreit sie auf der Straße diejenigen an, die sie dafür verantwortlich hält.
Ihre Enttäuschung über Ablehnung und Missgunst ihr gegenüber wächst, vor allem darüber, zur Witwe eines Verräters und zur Erbschleicherin gestempelt zu werden. Ihre Widerstandskraft, sich in einer Außenseiterposition zu behaupten, nimmt stetig ab. Schließlich schafft sie es, das Dorf zunehmend hinter sich zu lassen und Kraft für ein anderes Leben zu schöpfen. Wie sie sich immer mehr zurückzieht und nur noch wenige Freundinnen hat. Bis sie aber gerade deshalb eine besondere Unterstützung findet, die ihr hilft, ihr Auskommen zu sichern. Wie sie eine Freundin überredet, in die heruntergekommene Hauptstadt zu kommen und gemeinsam mit ihr eine Arbeit anzunehmen, wo junge Frauen in Büros gebraucht werden, und sie für einige Zeit ihre kleine Tochter der Obhut ihrer Mutter überlässt. Ausgerechnet sie, die sich nicht sicher ist, ob sie bleiben oder gehen soll, obwohl alles fürs Weggehen spricht und sie nichts mehr halten sollte. Wie sie diesen Soldaten der Verwaltungsmacht kennenlernt, der sie bewundert und über das Meer holen wird, mit einer Aufenthaltserlaubnis, mitsamt ihrer Tochter. Als die Beziehung zu diesem Mann scheitert und sie es trotzdem schafft, auf dem neuen Kontinent Fuß zu fassen, mit Hilfe neu entstandener Freundschaften. Als sie schließlich in späteren Jahren selbst zur stolzen Bürgerin des gelobten Landes wird.
Das von ihrem gefallenen Mann geerbte Haus hat sie in der Zwischenzeit einer befreundeten Familie zur kostengünstigen Miete überlassen. Einer Familie mit Wurzeln in der Landeshauptstadt und guten Beziehungen zum Ort, in dem diese vorrübergehend nach Kriegsende untergebracht gewesen war. Diese nutzt, nachdem sie in die Stadt zurückgekehrt ist, das Haus stets mehrere Wochen im Jahr, vorwiegend zur Sommerfrische. Der Vater der Familie, Beamter in der Ministerialbürokratie der neuen Republik, pflegt, seinem Traditionsbewusstsein gemäß, gerne über ein kleines Häuschen im Ausseeischen zu verfügen und diesen Umstand auch entsprechend zu zelebrieren. Jedes Jahr zumindest einige Zeit im Sommer, aber gelegentlich auch an Feiertagen. Der Lauf der Jahre und ein stetig steigender Wohlstand degradieren das Haus schließlich zum Sommerhäuschen, aufgrund wachsender Ansprüche und mangels bequemer Ausstattung für kältere Perioden. Die Werkstatt ihres gefallenen Mannes, der gelernter Tischler war, sowie weitere Nebengebäude hatte sie ohnehin seit Kriegsende nicht mehr angerührt. Auch für die Mieter sind sie tabu.
Gelegentlich denkt sie daran, das Haus vielleicht doch zu verkaufen. Aber sie hält die Vermietung für eine zwar vorläufige, aber schließlich doch dauerhafte Lösung.
So bleibt es über alle Jahre. Es sind Jahre, in denen ihr eine gute Anstellung in einer Handelsfirma Sicherheit und Einkommen bietet, ebenso ein Netz an Freundschaften. Jahre, in denen sie zwar Männer kennenlernen, aber keine Ehe mehr eingehen wird. In denen sie ihre Tochter heranwachsen und sie eine Familie gründen sieht, die mit den Enkeln in der Nähe lebt, in einem der Vororte der großen Stadt am Rande einer waldigen Bergkette. Und in denen sie regelmäßig im Ort ihrer Herkunft nach dem Rechten, aber vor allem nach dem Haus sieht und sich als erfolgreiche Emigrantin präsentiert. Als eine, die es dort geschafft hat. Als eine, die es denen zeigt, die sie angefeindet und missachtet haben und es vielleicht auch jetzt noch tun. Als eine, an der trotz Erfolg und Wohlstand Ausgrenzung und Nicht-Dazugehören weiterhin nagen. Als eine, die nicht weiß, warum sie an diesem Haus festhält, es nicht verkaufen, sich nicht von dieser Gegend lösen kann.
An einem frühen Morgen läuft John durch den Wald, weit nördlich des großen Sees und der Wirtschaftsmetropole. Endlich ist für ihn der Frühsommer ein wenig spürbar, auch hier in dieser Gegend. Gleichzeitig liebt er die Stimmung, die ihn beim Morgenfrost befällt. Er mag stille, gefrorene Landschaften. Wie noch vor einigen Wochen, als sie das erste Mal in diesem Jahr an diesem Platz verbracht hatten. Die Wasserlacken waren vereist, die Wiesen lagen in gefrorenem Weiß, die Bäume, noch dunkle Bäume, bevor sie austrieben, waren an der Oberfläche mit Frostflaum bedeckt. Dann der See, zwar eisfrei, aber im seichten Wasser am Rande des Ufers war er noch mit einer Eiskruste umsäumt.
Es ist still, das Wasser glatt, die Sonne steht noch tief und die ersten Strahlen treffen die Spitzen der hohen Bäume. Vor ihm liegt ein noch kalt erscheinender dunkler Weg, blau, grau, schwarz. Schwarzes Braun.
Johns Hüften schmerzen, sein Atem ist kurz. Er hat sich für zu lange Zeit zu wenig bewegt, zu viel gegessen und zu viel Alkohol getrunken. Er hat zu viel gearbeitet, zu viel Druck verbreitet und sich zu viel unter Druck setzen lassen. Er versucht, einen Rhythmus in seine ungelenk gewordenen Bewegungen zu bringen. Wieder mehr Rhythmus, wieder gleichmäßiger und entspannter, wieder mehr von dem, was ihm und allen anderen guttut. Es fällt ihm schwer, er läuft nur kurze Strecken, dann stoppt er, immer wieder, unregelmäßig. Der Waldboden, obwohl weich und geschmeidig, erscheint ihm wie schweres Gelände.
Er verweilt am Rande des Sees, die Oberfläche ist blitzblank, noch ist nicht die Zeit, in der sich im Wald fette Mücken bemerkbar machen, sobald er stehen bleibt und der Schweiß fließt. Die Sonne blinzelt durch die Bäume, einer Mischung aus Nadeln und Laub, frisch ausgetriebenes helles Grün.
Er denkt daran, wie er dieses andere Leben, das Leben in der Natur, stets herbeisehnt. Wenn er sich eingeengt fühlt an langen Schreibtischtagen, in endlosen Gesprächsterminen, im Stau, stets angemessen statt leger gekleidet, dazwischen sich mit Fast und Convenience Food versorgend, wenn auch von der gehobenen Sorte, eingeklemmt zwischen Terminen. Aber es gibt dieses andere, das wirkliche Leben. Das des Naturmenschen und Selbstversorgers, des Hüttenbauers und Kanupaddlers, des Anglers und Pick-up-Drivers durch ruppiges Gelände. Stets lässt er sich von diesem Lebensgefühl erfassen, wie viele Männer, die sich in ihren Holzfäller-Hemden einen Lebensplatz am Wochenendlagerfeuer gönnen, gelegentlich in einer Endlosschleife aus Grill, Baseball und Eishockey versunken, in Blockhütten, Holzriegeln oder aufgebockten Trailern mit Klimaanlage und Gasheizung. Wenn er seine Runden durch Blueberry-Moore zieht, wenn er das Heck des Pick-ups bis zum Bersten mit Überlebensausrüstung vollräumt, ergänzt durch Einkäufe in einer der äußeren Malls, den letzten Außenposten der Zivilisation auf dem Weg zur Lodge. Wenn er gute Musik von früher genießt, auf dieser in einem langen Stück geradeaus verlaufenden Straße, bevor sich diese entschließt, die Richtung zu ändern, um wiederum für eine lange Weile geradeaus zu verlaufen. Vorbei an schütteren Nadelwäldchen, Moorflächen, unzähligen schwarzen Seen, die zwischen den Bäumen durchschimmern. Bevor dahinter, sehr weit dahinter, der leere Norden beginnt, den er gelegentlich aufsucht. Wie Sibirien, denkt er manchmal, unüberschaubar in dieser erhabenen Endlosigkeit. Wenn er der Zivilisation und dem dichten Leben entflieht und sich in die Freiheit entlässt, mit entsprechender Ausrüstung, um sie zu überleben. Wenn er versucht, sich auf die Fülle an Arbeit zu konzentrieren, die auf ihn wartet, und wenn er beschließt, beschließen muss, Arbeit mitzunehmen in das Wochenende, in den Wald, nicht das erste Mal, nicht das letzte Mal, in diese großzügige Lodge am See, immerhin.
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