Nach einer Weile findet John einen Rhythmus, seine Gedanken verlieren sich zwischen Blättern, Sonnenstrahlen und Bäumen. Er läuft und er lässt es laufen, bis zur kleinen Lichtung mit einer Hütte. Er verlangsamt das Tempo, dann bleibt er stehen, an dieser Stelle, wo sich der Weg gabelt, wo eine Forstschneise schnurgerade vorbeiläuft, wo diese schäbige Hütte mit teilweise zugenagelten Fenstern steht. Einige davon erlauben Einblicke, obwohl fast schwarz vor Staub auf der Innenseite. Er drückt sein Gesicht an eine Scheibe und versucht, irgendetwas zu erkennen. Nur schemenhaft sieht er Umrisse, einen umgestürzten Stuhl, eine offene Innentür, leere Regale, einen Tisch, Dreck auf dem Boden, er nimmt einen modrigen Geruch wahr, der ihm sogar auf der Außenseite noch in die Nase fährt. Er erinnert sich, wie ihm ein Freund einmal von dieser Hütte erzählt hatte. Früher waren sie gelegentlich daran vorbeigelaufen und ihn überkam stets ein unheimliches Gefühl. Er habe Geschichten darüber gehört, so sein Freund, über Leute, die sich hierher zurückzogen hatten und langsam dem Wahnsinn der Einsamkeit und einer isolierten Beziehung verfallen waren, bis es Tote gab.
Du schaust zu viele Filme an, hatte John ihm damals ausgerichtet.
Ein merkwürdiger Schauer erfasst ihn. Er umschleicht die Hütte. Wer möchte schon mit derartigen Dingen zu tun haben? Dann läuft er ein Stück den unbekannten Weg weiter, der jedoch ins Nichts führt. Dann kehrt er um, kommt wieder an der Hütte vorbei und in Richtung See und Licht zurück.
Er denkt an das ihm unbekannte Haus seiner Großmutter, einer fahrigen alten Dame, die mit scheinbarer Wehmut vor sich hinlebte. Ihre Distanziertheit allen gegenüber hatte er Zeit ihres Lebens nie verstanden. Er verstand sie auch im Nachhinein nicht. In seiner Kindheit und Jugend, auch später, war ihm ihre Haltung nicht als etwas Besonderes erschienen, sondern einfach als ihr persönlicher Charakter. Menschen sind halt so, dachte er immer, auch seine Großmutter. Aber wie denn genau und warum? Darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht, er hatte nie Interesse daran gezeigt, es erscheint ihm nun merkwürdig, dass sie ihm in dieser Situation einfällt.
Nach der Seeumrundung denkt er auf dem Sofa nach und trinkt Bier. Eine Entscheidung beginnt in ihm zu reifen.
Ich muss weg. Ich muss da hin.
Er ruft seinen Partner an, zunächst vergeblich, er spricht auf seinen Anrufbeantworter, später am Abend ruft ihn dieser zurück. John erläutert ihm die Sache, er bittet ihn, vorläufig die Leitung seiner Projekte zu übernehmen, es laufe ohnehin alles gut. Er habe viel vorbereitet und vorgearbeitet. Er werde in der nächsten Woche noch alle laufenden Arbeiten abschließen, aber er müsse wegfahren für rund zwei Wochen und etwas regeln.
Du brauchst eine Auszeit, oder? Du bist unkonzentriert und überbelastet. Ich verstehe das, ich merke das. Dir geht es nicht gut, also tu das bitte, wir bringen das schon hin.
John erzählt ihm vom geerbten Haus, aber es sei doch mehr als das. Er müsse einfach wegfahren, er müsse raus, ein wenig flüchten aus seiner Situation, nachdenken.
Warum?
Sie haben Probleme, er und seine Frau, miteinander. Das belaste ihn und nun gibt es auch noch diese Angelegenheit mit der Erbschaft. Er müsse das in Ordnung bringen, bevor es Geld kostet, so wie sich das anhört. Am besten, er fährt hin, das schafft Abstand, genau das, was er brauche.
Sein Partner sichert ihm zu, er werde ein paar Leute organisieren und ein paar Termine nach hinten schieben, dafür solle er sich um seine Dinge kümmern. Vielleicht tue ihm das gut, einmal aus allem auszusteigen. Und was er von seiner Großmutter wisse?
Er habe mit ihr Zeit ihres Lebens kaum über das Haus und diesen Ort gesprochen.
Warum nicht?
Ich bin nicht auf die Idee gekommen. Und sie hat nicht gerne darüber geredet. Aber mehrere Male war sie dort.
Warum sie das Haus nicht verkauft habe?
Ich weiß es nicht, sie hat es Freunden, einer damals jungen Familie, langfristig zur Miete überlassen, erzählte mir die Mutter einmal. Aber das ist sehr lange her. Alle paar Jahre habe sie nach dem Rechten gesehen, alte Kontakte geknüpft. Dann ist sie gestorben, sie war zwar schon sehr alt, aber es kam doch überraschend. Meine Eltern hat das Haus nicht interessiert, die Mutter hat davon gesprochen, dieses Haus so rasch wie möglich zu verkaufen, aber sie kam nicht mehr dazu. Du weißt, der Unfall. Vor zwei Jahren ist meine Großmutter verstorben, meine Eltern vor einem Jahr, und nun bin ich dran, mich darum zu kümmern.
Es ist das erste Mal, dass er ein Wochenende allein in der komfortablen Lodge verbringt. Bisher waren sie stets gemeinsam an diesem Platz gewesen, oft mit befreundeten Familien, mit gemeinsamen Einkäufen für das Wochenende, mit Schachteln voller Dosenbier und was sonst noch alles an Freizeit-, Wochenend- und Outdoor-Material hineinpasst in einen Van oder und in einen umgebauten Pick-up. Mit Fischen, Kanufahren, Grillen und all den anderen Dingen, die hier alle tun. Vor vielen Jahren hatten sie mit Freunden gemeinsam die Gelegenheit genutzt, die Lodge zu erwerben und zu adaptieren, heute beinahe unbezahlbar.
Ich kann das nicht, nicht mehr. Wir müssen klären, wie es mit uns weitergeht, sagte sie, nicht zum ersten Mal.
Sie hatte sich von ihm distanziert, immer mehr. Lange war es ihm nicht aufgefallen. Die Unzufriedenheit. In der Geschäftigkeit seines Berufes, in den Wochenenden mit Arbeit, in den abendlichen Überstunden, in ihren immer unterschiedlicheren Interessen. In Phasen, wo sie ihn gebraucht hätte und auf ihn gewartet hatte und er nicht da war, obwohl es möglich gewesen wäre.
Du hast nie Zeit. Du kümmerst dich nicht um mich! Was tun wir schon gemeinsam? Wir reden ja kaum mehr. Du bist immer auf der Flucht. Flüchtest du vor mir? Wo ist deine Fürsorglichkeit, deine Zärtlichkeit, deine Aufmerksamkeit von früher?
Es beginnt eine Zeit, in der ihm zunehmend ihre Gemeinsamkeit und ihre Vertrautheit verloren gehen. Als sie beginnt, in Kurse zu gehen. Als sich daraus eine Freundesgruppe bildet, mit der sie unterwegs ist, immer regelmäßiger und häufiger. Bis sie ihm eröffnet, klar und direkt, dass ihre Beziehung und ihr Zusammenleben nicht selbstverständlich seien, nicht mehr. Dass sie es infrage stelle.
Zuerst nimmt er das nicht ernst.
Du bist übersteuert! Was hast du? Du hast eine schlechte Phase, lass uns doch einmal gemeinsam mehr Zeit nehmen.
So sein Versuch, ihre Aussagen abzuwehren, sich einzureden, dass es weniger an ihrer Beziehung, sondern nur an ihrer persönlichen Tagesverfassung und Befindlichkeit liege. Aber schon, als ihm diese Dinge quasi aus dem Mund fallen, hätte er sie lieber gar nicht ausgesprochen.
Sie reagiert heftig.
Es ist doch grundsätzlicher. Du weißt es. Was redest du da? Um dich zu beruhigen? Nur ein Kratzer? Nichts Ernstes? Es ist tiefer und ernster. Ich spüre dich nicht mehr, manchmal ertrage ich dich nicht mehr. Auch müsse sie ihm mitteilen, dass sie einen anderen Mann kennengelernt habe, der vieles davon mitbringe, was sie an ihm inzwischen vermisse.
Als er sie eines Abends anblickt. Als sie ihn anblickt. Als er merkt, dass etwas passiert, etwas Entscheidendes, dass nun etwas anders ist. Als ihm ein Schrecken durch die Glieder fährt und ihn erstarren lässt. Als er versucht zu reden, zu argumentieren. Als er versucht, Druck auf sie auszuüben, obwohl er weiß, wie widersinnig das ist, dass es nicht ums Überreden geht, nicht mehr, er fühlt es. Bis ihn ein Gefühl unendlicher Einsamkeit überkommt, wie er es noch nicht gekannt hat.
Es lähmt ihn, auch jetzt an diesem Wochenende, das er nun alleine verbringt, alleine verbringen muss. Er hatte sich gezwungen, laufen zu gehen, einen Rhythmus zu finden.
Aber nun? Allein im sinnlos erscheinenden gemeinsamen Wochenendparadies? Er kann es sich nicht vorstellen, ohne sie in diesem Haus, an diesem Platz, den sie sich stets so gewünscht hatte, wo sie oft glücklich gewesen waren. Sie will nicht mehr. Er wird verlassen werden, so fürchtet er, und er kann und will es nicht begreifen.
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