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Fraglich ist, für welchen Zeitraumeine Verständigung über die Ansässigkeit gelten soll bzw kann. Der OECD-MK führt zu der Art 4 Abs 1entsprechenden Regelung aus, dass die Verständigung nur für einen von vorne herein in der Verständigungsvereinbarung festgelegten Zeitraum gelten soll, da sich die für die Bestimmung der Ansässigkeit maßgeblichen Faktoren im Laufe der Zeit ändern können.[34] Dies verdeutlicht die extreme Unsicherheit, die sich für die Steuerplanung doppelt ansässiger nicht natürlicher Personen durch das MLI ergibt. Bei einer Festlegung der Ansässigkeit iRd Verständigung besteht für die Zeit nach Ablauf eines dort festgelegten Zeitraums jedes Mal wieder Unsicherheit darüber, ob die Vertragsstaaten sich überhaupt auf einen Ansässigkeitsstaat einigen können und welcher Vertragsstaat dies sein wird. Selbst wenn sich die Umstände nicht geändert haben, könnte iRd abermaligen Verständigung ein anderes Ergebnis gefunden werden, etwa weil einzelne Faktoren nun anders gewichtet werden. Vor diesem Hintergrund kann jedem Steuerpflichtigen nur geraten werden, eine Doppelansässigkeit von vorneherein zu vermeiden.
g) Folgen bei fehlender Verständigung über die Ansässigkeit
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Kommt es zwischen den Vertragsstaaten nicht zu einer Verständigung über die Ansässigkeit einer anderen als nicht natürlichen Person, so kann diese nach Art 4 Abs 1 S 2grds keine Steuerermäßigungen oder -befreiungen nach dem unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommen in Anspruch nehmen. Andere Abkommensvergünstigungen sind grds ebenfalls ausgeschlossen. In beiden Fällen hat nach Art 4 Abs 1 S 2eine solche Person nur Anspruch auf Steuervergünstigungen nach dem jeweiligen DBA, soweit dies von den zuständigen Behörden der Vertragsstaaten vereinbart wird. Die Regelung zielt wohl auf eine Gewährung partieller Abkommensvorteileim Einzelfall ab.[35] Grds denkbar ist aber auch, dass die Vertragsstaaten für solche Fälle eine allgemeingültige Regelungtreffen.[36]
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Das Explanatory Statement weist darauf hin, dass die Versagung von Abkommensvorteilen aufgrund fehlender Verständigung der Vertragsstaaten eine Besteuerung begründet, die den Bestimmungen des unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommens entspricht, da Abs 1für einen solchen Fall ausdrücklich die Inanspruchnahme von Abkommensvorteilen verneint. Das bedeutet zB, dass bei Scheitern einer Verständigung zwischen den Vertragsstaaten kein Anspruch auf ein Schiedsverfahrenbesteht, auch wenn das anwendbare DBA ein Schiedsverfahren für Fälle vorsieht, in denen die Besteuerung nicht in Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieses DBA erfolgt.[37]
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Der grds Ausschluss der Abkommensvergünstigungenwirkt nur für die andere als nicht natürliche Person selber; für die sonstige Anwendung des Abkommens handelt es sich trotzdem um eine nach DBA ansässige Person, da durch Abs 1nicht bestimmt wird, dass die Person bei einer Doppelansässigkeit ohne Verständigung als überhaupt nicht ansässig iSd DBA gilt.[38] Dies kann bspw für die Zuweisung des Besteuerungsrechts von Einkünften von Arbeitnehmern der doppelt ansässigen Person nach Art 15 OECD-MA eine Rolle spielen. Ist dieser Arbeitnehmer im anderen Staat der Doppelansässigkeit tätig, kann Art 15 Abs 2 Buchst b nicht erfüllt werden. Auch für Zwecke des Art 10 OECD-MA gilt eine doppelt ansässige Ges, die Dividenden auszahlt, in beiden Vertragsstaaten als ansässig.
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Auch wenn die Ansässigkeit ohne Verständigung nicht völlig verneint wird, so führt doch die Nichtgewährung von Abkommensvorteilen an sie als Steuerpflichtige zu erheblichen Nachteilen bzw bei unbeschränkter Steuerpflicht in mehreren Staaten zu Doppelbesteuerungen, sodass in der Praxis doppelt ansässige Rechtsträger vermieden werden sollten.[39]
h) Verfassungsrechtliche Bedenken
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Nach Abs 1 S 1wird es den Vertragsstaaten für jeden Einzelfall flexibel überlassen zu bestimmen, welche Kriterien sie bei der Verständigung über die Ansässigkeit bzw bei der Verständigung über partiell zu gewährende Abkommensvorteile nach Abs 1 S 2zugrunde legen. Für den einzelnen Steuerpflichtigen ist es daher nicht möglich, seine Ansässigkeit im Voraus sicher zu bestimmen. Während das Zuordnungskriterium nach Art 4 Abs 3 OECD-MA für die Ansässigkeit nach DBA bislang jedenfalls insofern eindeutig war, als es zwar mehrere Orte der Geschäftsleitung, aber nur einen Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung geben kann, ist nach Art 4 Abs 1zwar im Einzelfall anhand der genannten Kriterien[40] eine Vermutung für einen Ansässigkeitsstaat möglich. Dieser ist aber letztlich nicht sicher bestimmbar, da ja im schlimmsten Fall auch eine Verständigung der zuständigen Behörden ausbleiben kann.
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Anders als bei dem nach DBA vorgesehenen allgemeinen Verständigungsverfahren geht es bei der Festlegung der Ansässigkeit nicht um einen Auslegungskonflikt zwischen den Vertragsstaaten bzw die Frage, ob vermeintliche Abkommensvergünstigungen durchgesetzt werden können, sondern um die Festlegung, ob eine Person überhaupt Abkommensschutzgenießt.[41] Dies führt dazu, dass die abkommensrechtliche Begünstigung und damit die Steuerbelastung durch den einzelnen doppelt ansässigen Steuerpflichtigen nicht im Voraus bestimmbar ist und letztlich auch eine Gleichbehandlung von doppelt ansässigen Steuerpflichtigen nicht gewährleistet werden kann. Insofern stellt sich aus dt Sicht die Frage der Verfassungsmäßigkeitbzw der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung.[42] Allein Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Ortes der tatsächlichen Geschäftsleitung dürften zumindest in Deutschland nicht als Grund für den Verzicht auf eine inhaltlich bestimmte Regelung zur Bestimmung der Ansässigkeit nach DBA ausreichen.[43]
2. Änderung bestehender DBA ( Abs 2)
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Abs 2stellt die Vereinbarkeitsklauseldar und regelt die Änderung der unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommen durch Abs 1, sofern keine Anwendungsvorbehaltegreifen. Enthält ein DBA bereits eine Regelung, die bei Doppelansässigkeit einer anderen als einer natürlichen Person einen Ansässigkeitsstaat bestimmt, zB eine Regelung entsprechend Art 4 Abs 3 OECD-MA, so wird diese durch Art 4 Abs 1ausweislich des Ausdrucks „anstelle von“ ersetzt.[44] Enthält ein DBA bislang keine solche Regelung, so gilt Art 4 Abs 1in Ergänzung zu diesem DBA („in Ermangelung von Bestimmungen“).[45] Sollte ein DBA eine Bestimmung enthalten, die sowohl die Ansässigkeit von doppelt ansässigen natürlichen Personen als auch von anderen Personen regelt, gilt Abs 1nur insoweit, als nicht natürliche Personen von der Bestimmung umfasst sind.[46] In solchen Fällen wäre eine Umformulierung der betreffenden Vorschrift durch die Anwenderstaaten notwendig, auch wenn dies so im MLI nicht explizit vorgesehen ist.
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Die beschriebene Änderung oder Ergänzung der DBA gilt vorbehaltlich der Bestimmungen der Anwendungsvorbehalteder Vertragsstaaten nach Abs 3und der Ergebnisse der Notifikation entsprechend Abs 4. Danach ist es grds möglich, dass ein Abkommen durch Abs 1geändert wird oder in der durch Abs 3 Buchst e)modifizierten Fassung des Abs 1geändert wird oder überhaupt nicht geändert wird.[47]
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Die Regelung des Abs 1ersetzt jedoch in keinem Fall Bestimmungen von DBA, die ausdrücklich Regelungen zur Ansässigkeit von Ges, die Teil einer zweifach eingetragenen Unternehmensstruktursind, enthalten.[48] Dh diese Bestimmungen behalten unabhängig von der Anwendung des Art 4ihre Gültigkeit. Der maßgebende englische Text des MLI spricht diesbezüglich von „dual-listed company arrangements“, also von in beiden Vertragsstaaten gelisteten, öffentlich notierten Unternehmen.[49] Nach Rn 53 des Explanatory Statement bestehen solche zweifach eingetragenen Unternehmensstrukturen nur in relativ wenigen Ländern und DBA-Klauseln, welche diese erfassen, sind typischerweise genau auf das jeweilige Recht der Anwenderstaaten zugeschnitten, um die Ansässigkeit in nur einem Vertragsstaat zu gewährleisten.
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