Eine Freundin von mir ist der Meinung, der Unterschied zwischen einer Sammlung und einem Museum sei reine Interpretationssache. Wir kamen darauf, als wir ein anderes isländisches Museum besuchten, das ich nicht zuletzt deshalb liebe, weil sein Name mit »Das Museum der kleinen Dinge« oder »Das Allerlei-Museum« übersetzt wird, und weil die Ausstellungsstücke Dinge umfassen wie etwa ein paar Dutzend dicke, alte Nägel, die wie ein Igel-Prototyp aus einer alten, weiß getünchten Tafel ragen.
Im Museum der kleinen Dinge sind nicht nur Nägel ausgestellt, sondern auch Schlüssel, jede Menge Schlüssel, Telefone und jeder einzelne Bleistift, der seit der Einschulung in den Besitz des Sammlers gelangt ist. Meine Freundin ist Architekturhistorikerin und ich habe Kunstsammlungen verwaltet, und wir waren beide sehr angetan von einer Texttafel, auf der der Sammler über ein potenzielles Ausstellungsobjekt sagt: »Auch wenn es jetzt noch nicht alt ist, wird es das eines Tages sein.«
Meine Freundin war jedoch nicht bereit, der Allerlei-Sammlung den Status eines Museums zuzugestehen, ganz egal, wie es sich selbst nannte. Horten sei kein Kuratieren, sagte sie. Die schiere Masse mache noch kein Museum aus. Museen, konstatierte sie, seien Sammlungen, die sortiert und zu Geschichten arrangiert seien, denen eine Ordnung, eine Erklärung und ein Sinn gegeben werde. Sammlungen an sich seien nur Gruppierungen von Dingen.
Ich denke, das ist eine nützliche Unterscheidung, und ich frage mich, ob wir in der Praxis nicht mehr Museen hätten, wenn nicht nur so wenige Menschen die notwendigen unterschiedlichen Fähigkeiten in sich vereinten – die sich einerseits für das Sammeln, Erzählen und Ordnen von Geschichten begeistern als auch gerne geduldig Kataloge führen, Eintritt kassieren, aufräumen und immer wieder erklären, dass sie einen so großen Geldschein nicht wechseln können.
IN DEM SOMMER, in dem ich das Phallologische Museum besuche, wird Sigurður siebzig Jahre alt. Es ist sein letzter Sommer, ja es sind seine letzten Wochen im Museum. Ich frage, ob es eine große Abschiedsparty geben wird.
»Nein«, sagt der Kurator.
Als die chilenische Zeitschrift Las Últimas Noticias Sigurður 2007 fragte, was er mit dem Museum machen werde, wenn er sterbe, sagte er, er wisse es nicht. »Posiblemente lo donaré a la Iglesia Luterana de Islandia.« Möglicherweise werde ich es der lutherischen Kirche von Island schenken , sagte er. Die Lutheranische Kirche hat noch kein Interesse bekundet, aber Sigurður hat im Laufe der Jahre viele andere Angebote bekommen. Im Jahr 2010 wollten einige Isländer das Museum kaufen und modernisieren, eine Neugestaltung mithilfe von Museumsarchitekten in Reykjavík durchführen. Aber es ist nicht zu verkaufen, nicht an sie. Zu riskant. Zu groß ist das Risiko, dass es sich in etwas Pornografisches, Lüsternes verwandeln würde, etwas, das es nicht sein soll.
Wenn Sigurður in den Ruhestand geht, wird sein einziger Sohn das Museum übernehmen, es zurück nach Reykjavík bringen und dort weiterführen. Im Großen und Ganzen wird alles so bleiben, wie es ist: die gleichen Spezifikationen, die gleichen Etiketten. Die gleiche handgeschnitzte Kasse, der gleiche Einlass-Sermon. Wobei wir unter der Führung des Sohnes zumindest mit einem besser ausgestatteten Souvenirladen rechnen können. »Fürs Geschäft hat er ein besseres Händchen«, sagt Sigurður.
»Mein Vater hat keine Lust dazu«, sagt Lilja und weist mit dem Kinn auf das Bücherregal, das als Geschenkeladen durchgeht. »Die Geldkassette aufschließen, den Leuten Wechselgeld rausgeben …« Er misst dem einfach keine große Bedeutung bei. Früher hatte er Spaß daran, phallische Türklinken, Garderoben und Holzhämmer zu schnitzen. Im Jahr 2000 konnte man ein Springseil mit hölzernen Phallusgriffen für nur sechsundzwanzig Dollar kaufen, aber Sigurður hat vor zwei oder drei Jahren aufgehört zu schnitzen. Die Produktion der Schlüsselanhänger hat er nach Indonesien ausgelagert (es gibt sie mittlerweile in drei verschiedenen Farben), aber die Salz- und Pfefferstreuer sind nur noch Sammlerstücke, und wenn man so etwas wie einen Rückenkratzer will, so sind diese leider ausverkauft.
Ich frage Lilja, ob es in der Familie Unmut über die Entscheidung gab, Hjörtur das Museum zu überlassen, aber sie versichert mir, dass sie und ihre Schwestern einverstanden waren. Zwar haben die Schwestern dem Museum so manches gespendet und lieben es – die Älteste hat 2003 sogar eine prächtige nicht-kirchliche Hochzeit in seinen Räumen gefeiert –, aber die Frauen waren sich einig: Dieses spezielle Museum könne nur vom Vater an den Sohn weitergegeben werden.
DIE SAMMLUNG WIRD FORTGEFÜHRT. Natürlich wird sie das. Eineinhalb Monate bevor er in den Ruhestand geht, hat der Kurator noch eine Wunschliste: ein Exemplar von einem Eisbären (ein besseres), von einem Blauwal (ein vollständigeres), eines von einem reinrassigen isländischen Hund. Die Exemplare der bereits in der Sammlung vertretenen Spezies können immer eine Aufwertung vertragen, und der Umfang der Sammlung kann jederzeit um neue Arten erweitert werden. Manche Meerestiere haben meterlange Phallusse – wenn es nur einen Ahab gäbe, der sie herbeibrächte! Eine vollständige Sammlung auch nicht-isländischer Exemplare könnte das Lebenswerk eines anderen Mannes – oder, Verzeihung, Menschen werden. Allein die Sammlung der Exemplare heimischer Säugetiere war erst im April 2011 abgeschlossen.
Páll Arason war in Island, wie Sigurður es höflich ausdrückt, »eine bekannte Persönlichkeit« – andere würden ihn wohl eher berühmt-berüchtigt nennen. Als Pionier des isländischen Tourismus war Arason »der Erste oder Zweite«, der Reisegruppen in das Hochland, das schöne und unberechenbare Innere der Insel führte. Ein alter Hippie beschrieb mir einmal schwärmerisch den Anblick der Hochlandfelsen, die wie versteinerte Trolle geformt sind, und ich habe gehört, dass es herrlich sein muss, die Gegend auf dem Pferderücken zu erkunden, obwohl Regen oder Schneeregen ohne Vorwarnung über einen hereinbrechen können und einem dann nichts anderes übrigbleibt, als sich durchzuschlagen, bis es wieder aufhört. Als ich meinen Mietwagen abhole, liegt eine Pappkarte der Gegend auf dem Lenkrad, die in zwei Farben zeigt, wohin ich mit der winzigen weißen Blechbüchse fahren darf und wohin nicht. Ein dünnes blaues Band umgibt die Insel; die erlaubten Wege ignorieren das gesamte Hochland mit seinen schlechten Straßen, dem schlechten Wetter und den fehlenden Orten, man kann ja ohnehin nirgends anhalten. Die Karte weist nicht ausdrücklich darauf hin, dass es dort Drachen, Seeungeheuer, Hexen oder Trolle gibt, aber dennoch überlasse ich das Hochland dem Ermessen von Fahrern mit, wenn nicht abenteuerlicherem Gemüt, so doch gewiss robusteren Transportmitteln.
Arason wurde als Abenteurer bewundert, aber er war auch als politischer Faschist und berüchtigter Frauenheld bekannt. Die Presse bevorzugt manchmal das Wort Nazi, wie in der Schlagzeile: SE CORTÓ EL PENE DEL NAZI! Kurator schneidet Penis des Nazis ab! Was auch immer Páll Arason sonst noch gewesen sein mag, so ist er doch wohldokumentiert als die erste Person, die dem Museum ein menschliches Exemplar vermachte. Zu dem Zeitpunkt war er achtzig Jahre alt. Sigurður fehlten damals nur noch zwei Arten, um wirklich von jedem Säugetier in Island ein Exemplar zu besitzen. Die Sammlung war noch nicht einmal ein Museum; dieses sollte erst später im selben Jahr eröffnet werden, aber Arasons Absicht, ein posthumer Spender zu werden, wurde schriftlich festgehalten, unterzeichnet und bezeugt.
Arason war schon alt, als er die Vereinbarung traf, aber er lebte danach noch viele Jahre, lange genug, um mit über neunzig einen gewissen Verfall zu bemerken, lange genug, um festzustellen, dass sein Penis als Exemplar nicht mehr das Vermächtnis war, das er hinterlassen wollte. Ja, er lebte lange genug, um seine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Bis dahin hatte das Museum nichts weiter vorzuweisen als den juristischen Papierkram einer versprochenen Schenkung. Also genau genommen war im Museum eine menschliche Vorhaut ausgestellt, und die Hoden eines anderen Spenders waren zu sehen, aber ohne ein komplettes phallisches Exemplar eines Homo sapiens betrachtete der Kurator die Sammlung als unzulänglich.
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