§ 10. ( Es bestehen praktische Grundsätze, die sich widersprechen .) Wer die Geschichte der Menschheit sorgfältig liest, sich unter den verschiedenen Volksstämmen umsieht und ihre Handlungen ohne Vorurtheil betrachtet, kann sich überzeugen, dass man kaum einen moralischen Grundsatz angeben oder eine Tugendregel auffinden kann (die ausgenommen, welche die Gesellschaft zu ihrem Bestehen nicht entbehren kann, obgleich selbst diese gewöhnlich zwischen mehreren Gesellschaften nicht beachtet werden), die nicht in einer oder der andern Weise von der allgemeinen Mode ganzer Gesellschaftsklassen verspottet oder verurtheilt wird, deren praktische Ansichten und Lebensregeln ganz denen Anderer entgegenlaufen.
§ 11. ( Ganze Völker verwerfen manche Moralregeln .) Man erwidert hier vielleicht, dass es nichts gegen die Kenntniss einer Regel beweise, wenn sie übertreten werde. Ich erkenne diesen Einwurf da an, wo die Menschen die Gesetze trotz der Uebertretung nicht verleugnen, und wo die Furcht vor Schande, Tadel oder Strafe ein Zeichen bleibt, dass das Gesetz ihnen noch eine gewisse Ehrfurcht einflösst. Aber unmöglich kann ein ganzes Volk das verwerfen und verleugnen, was jeder Einzelne sicher und untrügerisch als Gesetz anerkennt, und doch müsste es sich so verhalten, wenn das Gesetz von Natur dem Gemüthe des Einzelnen eingeprägt wäre. Allerdings kann es kommen, dass Menschen sich für Moralregeln aussprechen, welche sie innerlich nicht für wahr halten, allein sie wollen dann damit nur ihren guten Ruf und ihre Achtung sich bei denen erhalten, welche an die Verbindlichkeit dieser Regeln glauben. Eine ganze Gesellschaft kann aber unmöglich offen und ausdrücklich eine Regel verleugnen und verwerfen, welche die Einzelnen in ihrem Innern doch als ein unzweifelhaftes Gesetz anerkennen müssen, und von der sie wüssten, dass Alle, mit denen sie verkehren, ebenso dächten. Deshalb müsste Jeder fürchten, dass die Andern ihn so verachten und verabscheuen, wie es der verdient, welcher sich aller Menschlichkeit bar erklärt; und der, welcher die natürlichen und anerkannten Vorschriften über Recht und unrecht vermengt, kann nur als der erklärte Feind ihres Friedens und Glückes angesehen werden. Ein praktischer Grundsatz, der angeboren wäre, müsste von Jedermann für einen gerechten und guten gehalten werden. Deshalb ist es beinah ein Widerspruch, zu behaupten, dass ganze Völker in ihren Reden und Handeln einstimmig und allgemein das verleugnen sollten, was jeder Einzelne mit untrüglicher Gewissheit als wahr, recht und gut anerkennte. Dies zeigt somit, dass eine praktische Regel, die irgendwo allgemein und mit offener Billigung oder Nachsicht übertreten wird, nicht angeboren sein kann. Indess habe ich noch mehr auf diesen Einwurf zu erwidern.
§ 12. Man sagt, die Uebertretung einer Vorschrift ist noch kein Beweis, dass sie unbekannt ist. Dies gebe ich zu; wenn aber irgendwo die Uebertretung allgemein zugelassen wird, so beweist dies, dass sie nicht angeboren ist. Wir wollen beispielsweise eine von den Regeln nehmen, die am unmittelbarsten aus der Vernunft sich ergeben, mit den natürlichen Neigungen der meisten Menschen stimmen, und die nur wenige Völker frech verleugnet oder unbedachtsam bezweifelt haben. Ist irgend eine Regel von Natur eingeprägt, so hat keine mehr Anspruch darauf, als die, dass Eltern ihre Kinder schützen und lieben sollen. Was soll es nun heissen, wenn man sagt, diese Regel sei angeboren? Entweder ist sie dann ein angeborener Grundsatz, der bei jeder Gelegenheit das Handeln Jedermanns bestimmt und leitet, oder sie ist eine Wahrheit, die in Jedermanns Seele eingeprägt und deshalb gekannt und gebilligt wird. Aber weder in diesem noch in jenem Sinne ist sie angeboren. Denn erstens bestimmt sie nicht das Handeln aller Menschen, wie ich durch die obigen Beispiele dargelegt habe; auch braucht man nicht bis Mingrelien und Peru zu gehen, um solche Vernachlässigung und Misshandlung, ja Vernichtung der Kinder zu finden; auch kann dies nicht blos als die rohe Sitte einiger wilden und barbarischen Völker angesehen werden; man erinnere sich nur der Griechen und Römer, bei denen es gewöhnlich und straflos war, die unschuldigen Kinder ohne Mitleid und Gewissensbedenken auszusetzen. Ebenso ist es zweitens falsch, dass diese Regel eine angeborene Wahrheit sei, die alle Menschen kennen. Diese Regel, dass Eltern ihre Kinder schützen und ernähren sollen, ist nicht blos keine angeborene, sondern überhaupt keine Wahrheit; denn es ist ein Gebot und kein Lehrsatz, und daher kann sie weder wahr noch falsch sein. Um eine Zustimmung zu ihr als eine Wahrheit zu erlangen, müsste sie in einen Lehrsatz, etwa der Art umgewandelt werden: »Es ist eine Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erhalten.« Allein was eine Pflicht ist, kann ohne Gesetz nicht eingesehen werden, und ein Gesetz giebt es nicht ohne Gesetzgeber oder ohne Lohn und Strafe. Daher kann weder dieser noch ein anderer praktischer Grundsatz angeboren sein, d.h. der Seele als eine Pflicht eingeprägt sein, wenn nicht auch die Begriffe von Gott, Gesetz, Verbindlichkeit, Strafe und einem jenseitigen Leben ebenfalls angeboren sind. Denn die Strafe folgt der Uebertretung dieser Regel nicht in diesem Leben, und deshalb ist klar, dass sie in Ländern nicht die Kraft eines Gesetzes haben kann, wo die allgemein zugelassene Sitte dagegen geht. Jene Begriffe (die sämmtlich angeboren sein müssten, wenn es so etwas wie eine Pflicht geben soll) sind aber so wenig angeboren, dass sie weder bei allen fleissigen und denkenden Menschen, und noch weniger bei allen lebenden Menschen klar und deutlich bestehen. Dies gilt selbst für den Begriff, der noch am meisten als angeboren angenommen werden könnte (nämlich den Begriff von Gott). Dies wird im nächsten. Kapitel sich hoffentlich für jeden denkenden Leser herausstellen.
§ 13. Aus dem Bisherigen ergiebt sich wohl unbedenklich, dass eine Regel, die irgendwo allgemein und ohne Tadel übertreten wird, nicht angeboren sein kann; denn es ist unmöglich, dass Menschen ohne Scheu und Furcht dreist und offen eine Regel übertreten sollten, von der sie klar wüssten (und dies müsste sein, wenn sie angeboren wäre), dass Gott sie aufgestellt habe und ihre Uebertretung mit einer Strafe sicher belegen werde, welche die Sache für den Uebertreter zu einem schlechten Geschäfte mache. Ohne ein solches Wissen kann Niemand sicher sein, dass ihm Etwas als Pflicht obliegt. Kennt man ein Gesetz nicht, oder bezweifelt man es, oder hofft man der Wissenschaft und Macht des Gesetzgebers zu entgehen, so kann vielleicht eine gegenwärtige Begierde die Uebermacht gewinnen; sieht man aber den Fehler und die dabei liegende Peitsche und ein Feuer, als die bereite Strafe der Uebertretung; oder sieht man einen lockenden Genuss, aber zugleich die Hand des Allmächtigen, der sie erhebt und Rache zu nehmen bereit ist (und dies muss der Fall sein, wenn eine Pflicht der Seele eingeprägt ist), dann möchte ich wissen, ob bei einer solchen Aussicht und einer solchen sichern Kenntniss, Jemand in Uebermuth und Gewissenlosigkeit das Gesetz übertreten könnte, was er in unvertilgbaren Schriftzügen in sich trüge, und was ihm in das Gesicht starrte, während er es verletzte? Kann wohl Jemand, wenn er das eingeprägte Gebot eines allmächtigen. Gesetzgebers in sich fühlt, ruhig und vergnügt dessen heiligste Gebote übersehen und mit Füssen treten? Und wäre es endlich wohl möglich, dass, wenn Jemand so offen dem angebornen Gesetz und dem höchsten Gesetzgeber Trotz bietet, alle Umstehenden und selbst die Leiter und Führer des Volkes, die in gleichem Sinne das Gesetz und den Gesetzgeber in sich fühlen, dem schweigend nachsehen, ihr Misfallen nicht aussprechen und nicht den leisesten Tadel darüber ausdrücken sollten? Allerdings sind Grundsätze des Handelns in den Trieben des Menschen enthalten; aber sie sind keine angebornen Moralregeln, da, wenn man ihnen volle Freiheit gäbe, sie die Menschen zur Vernichtung aller Moralität führen würden. Moralische Gesetze sind eine Kinnkette und ein Zügel gegen jene übermässigen Begierden; aber sie können es nur durch Strafen und Belohnungen sein, welche der zu erwartenden Last aus der Gesetzesübertretung das Gleichgewicht halten. Ist daher irgend Etwas der menschlichen Seele als Gesetz eingeprägt, so müsste es die sichere und unvermeidliche Kenntniss sein, dass eine gewisse und unvermeidliche Strafe der Uebertretung des Gesetzes folgt. Kann man aber über angeborne Grundsätze noch zweifeln, so hat die Behauptung und Geltendmachung von solchen keinen Zweck; dann sind Wahrheit und Gewissheit (um die es sich handelt), nicht voll durch sie gesichert, und der Mensch bleibt in derselben unsichern, schwankenden Lage, als gäbe es deren gar nicht. Jedes angeborne Gesetz muss mit dem sichern Wissen verbunden sein, dass seiner Uebertretung eine unvermeidliche Strafe folgt, die gross genug ist, um von der Uebertretung abzuschrecken; man müsste dann mit einem angebornen Gesetz zugleich ein angebornes Evangelium annehmen. Indess missverstehe man mich nicht. Wenn ich die angebornen Gesetze leugne, so will ich damit nicht alle andern Gesetze, die positiven ausgenommen, verleugnen. Es ist ein grosser Unterschied zwischen angebornen und natürlichen Gesetzen; zwischen dem, was in Urschrift in unsere Seele eingeprägt sein soll, und dem, was wir zwar nicht kennen, aber durch Gebrauch und die rechte Anwendung unserer natürlichen Fähigkeiten lernen können. Dagegen scheint mir, dass man in beiden Fällen die Wahrheit einbüsst, mag man ein angeborenes Gesetz behaupten oder mag man leugnen, dass ein Gesetz durch das natürliche Licht, d.h. ohne die Hülfe einer wirklichen Offenbarung, erkannt werden könne.
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