§ 25. ( Diese Grundsätze sind nicht das, was man zuerst weiss .) Damit man mich indess nicht beschuldige, dass ich meine Beweise aus dem Denken der Kinder entnehme, was man doch nicht kenne, und dass ich Folgerungen aus den Vorgängen in ihrer Seele ziehe, bevor sie davon etwas mittheilen können, so erwidere ich zunächst, dass jene beiden allgemeinen Sätze nicht die ersten Wahrheiten sind, welche das Kind besitzt, und dass sie nicht jeder erworbenen und von Aussen gekommenen Kenntniss vorhergehen; was doch sein müsste, wenn sie angeboren wären. Wenn man dies auch nicht sollte feststellen können, so giebt es doch sicherlich einen Zeitpunkt, wo die Kinder zu denken beginnen; denn ihre Worte und Handlungen überzeugen uns davon. Sind sie also zu dieser Zeit im Stande, zu denken, zu erkennen und zuzustimmen, so kann man vernünftiger Weise nicht annehmen, dass sie dann die Begriffe noch nicht erkennen sollten, welche die Natur ihnen, wenn es der Fall wäre, eingeprägt hätte. Kann man vernünftiger Weise glauben, dass sie von äussern Dingen die Eindrücke empfangen und gleichzeitig die Schrift-Zeichen nicht kennen, welche die Natur selbst ihnen eingeprägt habe? Wie könnten sie die von Aussen kommenden Begriffe aufnehmen und ihnen zustimmen und doch die nicht kennen, welche in die Grundlage ihres Daseins selbst eingewoben und da in unvertilgbaren Zeichen eingegraben sein sollen, um die unterläge und den Führer all ihrer erworbenen Kenntnisse und ihres spätem Denkens abzugeben? Dies hiesse, die Natur sich nutzlos anstrengen, oder sie sehr schlecht schreiben. lassen, wenn ihre Schrift-Zeichen selbst von den Augen nicht gesehen würden, die Anderes sehr gut sehen. Diese klarsten Stücke der Wahrheit und diese Grundlagen unseres Wissens wären dann sehr schlecht eingerichtet, wenn sie nicht zuerst erkannt würden, und wenn auch ohne sie die sichere Kenntniss vieler Dinge erlangt werden könnte. Das Kind weiss sicherlich, dass die Amme, welche es stillt, weder die Katze ist, mit der es spielt, noch der schwarze Mohr, vor dem es sich fürchtet, und dass der Wurmsamen oder Senf, den es nicht mag, nicht der Apfel oder der Zucker ist, nach dem es schreit. Dies ist unzweifelhaft, aber kann man deshalb sagen, dass es vermittelst des Grundsatzes geschehe, wonach dasselbe Ding unmöglich sein und nicht-sein kann, wenn es so fest diesen und andern Vorstellungen seiner Seele zustimmt? Oder, dass das Kind in einem Alter, wo es offenbar schon eine Menge anderer Wahrheiten kennt, schon einen Begriff und ein Verständniss von jenem Satze habe? Wer da sagt, dass Kinder diese allgemeinen und abgetrennten Grundsätze mit ihrer Saugflasche oder Klapper bei sich führen, wird mit Recht als ein eifriger und hitziger aber nicht als ein aufrichtiger und wahrheitsliebender Vertheidiger seiner Meinung gelten.
§ 26. ( Und deshalb sind sie nicht angeboren .) Es mag daher allgemeine Sätze geben, welche bei erwachsenen Personen, die mit den allgemeinen und hohem Begriffen und deren Worten bekannt sind, gleich bei ihrer Aufstellung eine beständige und wahrhafte Zustimmung finden; aber da dies sich nicht auch bei Personen zartem Alters findet, obgleich sie Anderes kennen, so können diese Sätze keine allgemeine Zustimmung bei allen vernünftigen Personen beanspruchen und deshalb auch nicht als angeboren gelten. Denn eine angeborene Wahrheit (wenn es eine solche giebt) kann unmöglich ungekannt bleiben, wenigstens nicht für Jemand, der schon Anderes kennt. Giebt es angeborne Wahrheiten, so giebt es auch angeborne Gedanken, da keine Wahrheit in der Seele bestehen kann, an die sie niemals gedacht hat. Daraus erhellt, dass wenn es Wahrheiten giebt, die der Seele angeboren sind, die Seele auch zuerst an sie denken muss und sie zuerst in ihr sich zeigen müssen.
§ 27. (Sie sind nicht angeboren, weil sie am wenigsten sich zeigen, während das Angeborne sich am klarsten zeigen muss .) Dass diese besprochenen allgemeinen Grundsätze den Kindern, Dummen und vielen Menschen unbekannt sind, habe ich bereits zur Genüge gezeigt und daraus erhellt, dass ihnen keine allgemeine Zustimmung zukommt, und dass sie keine allgemeinen Einprägungen sind. Indess spricht gegen ihr Angeborensein noch der weitere Grund, dass, wenn diese Zeichen ursprüngliche und angeborne Eindrücke wären, sie bei denjenigen Personen am ersten und deutlichsten hervortreten müssten, bei denen man doch keine Spur davon bemerkt. Es spricht nach meiner Ansicht stark gegen dieses Angeborensein, dass sie gerade den Personen am wenigsten bekannt sind, bei denen sie, wenn es sich so verhielte, gerade am stärksten und kräftigsten sich geltend machen müssten. Denn Kinder, Dumme, Wilde und alle unwissende Leute sind weniger, wie Andere, durch Gewohnheit oder angenommene Meinungen verdorben; bei ihnen hat Unterricht und Erziehung die ursprünglichen Gedanken nicht in neue Formen gepresst, und keine fremde und erlernte Lehre kann diese von der Natur eingeschriebenen deutlichen Zeichen verwischt haben. Deshalb kann man mit Recht erwarten, dass in der Seele Dieser jene angebornen Begriffe offen für Jedermanns Anblick darliegen werden, wie dies bei den Gedanken der Kinder immer der Fall ist; man sollte mit Recht erwarten, dass diese Grundsätze jenen Naturen vollkommen bekannt sein müssten, wenn sie unmittelbar der Seele eingeprägt wären (wie Jene annehmen), und deshalb von dem Zustand und den Organen des Körpers unabhängig wären, wodurch sie sich allein von andern Sätzen unterscheiden. Nach den Ansichten Jener sollte man meinen, dass alle diese natürlichen Lichtstrahlen (wenn es deren giebt) in ihrem vollen Glänze bei Denen leuchten müssten, welche nichts verheimlichen und künstlich verbergen können, und dass sie uns über ihr Dasein so wenig zweifeln lassen könnten, als man an ihrer Liebe zum Angenehmen und an ihrer Sehen vor dem Schmerze zweifelt. Aber welche Grundsätze, welche allgemeine Regeln des Wissens findet man denn bei Kindern, Dummen, Wilden und Ungebildeten? Ihre Begriffe sind beschränkt, nur den Gegenständen entnommen, mit denen sie am meisten zu thun haben, und welche ihre Sinne am häufigsten und stärksten erregt haben. Ein Kind kennt seine Amme und seine Wiege und allmählich mit zunehmendem Alter sein Spielzeug; ein junger Wilder ist vielleicht von der Liebe zur Jagd, nach der Weise seines Stammes, erfüllt; wer aber bei einem unerzogenen Kinde und einem wilden Bewohner der Wälder diese höheren Sätze und berühmten Grundlagen der Wissenschaften erwartet, wird sich, fürchte ich, sehr getäuscht finden. Solche allgemeine Sätze hört man nicht in den Hütten der Indianer; noch weniger finden sie sich in dem Denken der Kinder und in den Seelen der Naturmenschen eingeprägt; sie sind vielmehr nur die Sprache und die Beschäftigung in den Schulen und Akademien gebildeter Völker, welche an diese Art von Unterhaltung und Gelehrsamkeit gewöhnt sind, und wo häufig Streitfälle sich erheben. Hier sind diese Regeln für die künstlichen Beweise zurecht gemacht und für die Widerlegung zu gebrauchen; aber sie helfen wenig bei der Entdeckung der Wahrheit und zu dem Fortschritt des Wissens. Ueber diesen Punkt werde ich noch bei Kap. 7, Buch IV. Gelegenheit haben, mehr zu sagen.
§ 28. ( Wiederholung .) Was ich hier ausgeführt habe, mag den Meistern in der Beweiskunst thöricht vorkommen, und bei dem ersten Hören wird es Niemandem in den Kopf wollen. Ich bitte deshalb um einen kurzen Waffenstillstand mit dem Vorurtheil und um ein Anhalten im Tadel, bis man mich in dem Folgenden vollständig angehört haben wird; dann bin ich gern bereit, mich dem bessern Urtheile zu unterwerfen. Ich suche ernstlich nach der Wahrheit und bin deshalb nicht in Sorgen, dass man mich überführen könnte, indem ich von meiner Meinung zu eingenommen wäre, obgleich, wie ich gestehe, Alle gern dazu neigen, wenn Anstrengungen und Nachdenken den Kopf erhitzt haben. Mit einem Worte: Ich kann diese beiden wissenschaftlichen Grundsätze nicht für angeboren halten, weil man nicht allgemein ihnen zustimmt. Die Zustimmung, welche ihnen in der Regel zu Theil wird, erhalten auch andere Sätze in gleicher Weise, obgleich sie nicht als angeborene behauptet werden. Wenn ihnen zugestimmt wird, so geschieht dies anderer Umstände wegen, und nicht, weil sie von Natur uns eingeprägt sind, wie ich später auszuführen hoffe. Sind also diese obersten Grundsätze der Erkenntniss und Wissenschaft nicht angeboren, so kann auch kein anderer höherer Grundsatz (nach meiner Meinung) ein besseres Recht als jene darauf geltend machen.
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