Drittes Kapitel.
Es giebt keine angebornen praktischen Grundsätze
Inhaltsverzeichnis
§ 1. ( Kein moralischer Grundsatz ist so klar und allgemein anerkannt als die vorerwähnten theoretischen Grundsätze .) Wenn jene theoretischen Sätze, von denen ich in dem vorigen Kapitel gehandelt habe, nicht bei allen Menschen thatsächliche Zustimmung haben, wie dort gezeigt worden, so erhellt, dass den praktischen Grundsätzen noch viel mehr zur allgemeinen Annahme fehlt. Man wird schwerlich eine Moralregel anführen können, die eine so allgemeine und schnelle Zustimmung beanspruchen könnte, als der Satz: Was ist, das ist; öder deren Wahrheit so offenbar ist, wie die des Satzes: Es ist unmöglich, dass dasselbe Ding ist und nicht-ist. Sie haben deshalb noch weniger Anspruch darauf, angeboren zu sein, und der Zweifel, ob sie der Seele von Natur eingeprägt seien, ist hier stärker als bei jenen Sätzen. Nicht, dass ihre Wahrheit damit in Frage gestellt werden soll; sie sind vielmehr ebenso wahr und nur nicht ebenso einleuchtend. Die theoretischen Sätze führen ihre Selbstgewissheit mit sich, aber die moralischen Grundsätze verlangen Nachdenken, Begründung und einige Verstandesübung, um die Gewissheit ihrer Wahrheit zu erkennen. Sie liegen nicht, wie von Natur eingegebene Schriftzeichen, offen in der Seele vor; denn sonst müssten sie durch sich selbst erkennbar und durch ihr eigenes Licht gewiss und Jedermann bekannt sein. Damit soll ihrer Wahrheit und Gewissheit nichts entzogen sein; auch die Wahrheit und Gewissheit, dass die drei Winkel eines Dreiecks zweien rechten gleich sind, leidet ja dadurch nicht, dass dieser Satz nicht so einleuchtend ist, als der, dass das Ganze grösser ist als ein Theil, und dass man jenem bei dem ersten Hören nicht ebenso gleich beistimmen kann wie diesem. Es genügt, dass diese Moralregeln bewiesen werden können; wenn wir also zu keiner solchen Kenntniss derselben gelangen, so ist es nur unsere eigene Schuld. Indess ist die Unwissenheit, in der sich Viele in Bezug auf sie befinden, und die Langsamkeit, mit der Andere ihnen zustimmen, doch ein klarer Beweis, dass sie nicht angeboren sind, und dass sie sich dem Blick nicht ohne Suchen darbieten.
§ 2. ( Treue und Gerechtigkeit werden nicht von Jedermann als Grundsätze anerkannt .) Ich berufe mich auf Alle, die sich nur etwas mit der Geschichte der Menschheit bekannt gemacht und über den Rauch ihrer Feueresse hinweggesehen haben, ob es Moralsätze giebt, in denen alle Menschen übereinstimmen. Wo ist die praktische Wahrheit, die ohne Zweifel und Bedenken allgemein so anerkannt würde, wie es bei einer angeborenen Wahrheit sein muss? In der Gerechtigkeit und in der treuen Erfüllung der Verträge scheinen noch die meisten Menschen übereinzustimmen; dieser Grundsatz erstreckt sich selbst auf die Höhlen der Diebe und auf die Verbindungen zwischen den verworfensten Menschen; selbst die, welche in der Verleugnung aller Menschlichkeit am weitesten gehen, halten doch einander noch Wort und untereinander auf Gerechtigkeit. Ich gebe zu, dass selbst Geächtete dies gegen einander beobachten, aber nicht, weil sie sie als angeborene Gesetze der Natur anerkennen. Sie befolgen sie in ihren Gemeinschaften als Regeln der Zweckmässigkeit; aber derjenige kann unmöglich die Gerechtigkeit als einen praktischen Grundsatz erachten, der bei seinen Raubgenossen ehrlich danach handelt, aber gleichzeitig den ersten ehrlichen Mann, der ihm begegnet, plündert oder tödtet. Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit sind das gemeinsame Band der Gesellschaft, und es müssen deshalb selbst Geächtete und Räuber, die sonst mit aller Welt gebrochen haben, unter sich auf Treue und Billigkeit halten, da sie ohnedem nicht zusammen bestehen können; kann man aber deshalb sagen, dass die, welche vom Betruge und Raube leben, angeborene Grundsätze der Gerechtigkeit und Wahrheit haben, welche sie anerkennen und denen sie zustimmen?
§ 3. ( Der Einwurf wird beantwortet, dass die Menschen zwar in der Ausübung sie verleugnen aber sie doch innerlich anerkennen .) Vielleicht entgegnet man, dass ihre stillschweigende Zustimmung das anerkennt, dem ihr Handeln widerspricht. Ich antworte zunächst, dass ich die Handlungen der Menschen immer für die besten Ausleger ihrer Gedanken genommen habe. Indess ist es sicher, dass viele Menschen durch ihre Handlungen und mancher durch offene Erklärungen diese Grundsätze entweder bezweifelt oder geleugnet haben. Man kann daher keine allgemeine Zustimmung behaupten (selbst wenn man hierbei blos auf die Erwachsenen achtet), und ohnedem kann man sie auch nicht als angeboren anerkennen. Zweitens wäre es sonderbar und unvernünftig, angeborne praktische Grundsätze anzunehmen, die sich blos darauf beschränken, sie denkend zu betrachten. Praktische Grundsätze, die von der Natur abgeleitet werden, gelten für das Handeln, und sollen die Einstimmigkeit im Handeln und nicht blos die theoretische Zustimmung zu ihrer Wahrheit herbeiführen; sonst wäre es nutzlos, sie von den theoretischen Sätzen zu sondern. Die Natur hat, wie ich anerkenne, in den Menschen das Begehren nach Glück und den Abscheu vor Unglück gelegt; dies sind wahrhafte angeborene Grundsätze, die (wie solche es sollen) fortwährend wirksam sind und alle unsere Handlungen ohne Unterlass bestimmen; dies kann man an allen Personen jedes Alters stetig und allgemein bemerken; allein dies sind Neigungen aus dem Begehren nach dem Guten und keine Einprägungen von Wahrheiten in den Verstand. Ich bestreite nicht, dass der menschlichen Seele von Natur gewisse Bestrebungen eingeprägt sind, und dass mit Beginn des Wahrnehmens und Vorstellens manche Dinge als angenehm und andere als unangenehm gelten; dass man zu manchen neigt und vor anderen flieht; aber dies führt nicht zu angeborenen Schriftzeichen in der Seele, welche als Grundsätze der Erkenntniss unser Handeln regeln sollen. Dergleichen bestätigt so wenig natürliche Eindrucke auf den Verstand, dass es vielmehr gegen sie spricht; denn gäbe es wirklich dergleichen Eindrücke, ähnlich den Grundsätzen der Erkenntniss, so müsste man ihre stetige Wirksamkeit auf die Erkenntniss doch in sich bemerken, wie dies mit jenen andern auf den Willen und das Begehren geschieht; denn diese sind ohne Unterlass die Triebfedern und Beweggründe für all unser Handeln, und wir fühlen sehr deutlich, wie sie uns fortwährend dazu antreiben.
§ 4. (Die Moralvorschriften bedürfen eines Beweises, deshalb sind sie nicht angeboren .) Ein anderer Grund, weshalb ich an dergleichen angebornen praktischen Grundsätze zweifle, ist, dass schwerlich eine Moralvorschrift aufzustellen ist, für welche man nicht mit Recht einen Grund verlangen kann. Dies wäre ganz verkehrt und lächerlich, wenn sie uns angeboren oder selbstverständlich wären, was jeder angeborne Grundsatz sein muss, der weder eines Beweises zur Begründung seiner Wahrheit, noch eines Grundes zur Erlangung seiner Billigung bedarf. Man würde Den für ganz unverständig halten, der für den Satz, dass dasselbe Ding unmöglich sein und nicht-sein kann, nach einer oder der anderen Seite hin einen Grund verlangte. Dieser Satz führt sein eigenes Licht und seine Gewissheit mit sich und braucht keinen andern Beweis; wer die Worte versteht, stimmt ihm als solchem bei; nichts Anderes könnte ihn dazu bestimmen. Wenn man dagegen die sicherste Moralregel und die Grundlage aller gesellschaftlichen Tugend, nämlich, dass man dem Andern das thun solle, was man selbst für sich gethan verlangt, Jemandem sagt, der sie nie gehört hat, aber sie zu verstehen fähig ist, sollte der nicht mit vollem Recht nach ihrem Grunde fragen dürfen? und ist der, welcher sie aufstellt, nicht verpflichtet, ihm ihre Wahrheit und Vernünftigkeit darzulegen? Dies zeigt klar, dass dieser Satz nicht angeboren ist; denn wäre er es, so würde man einen Beweis dafür weder verlangen noch erhalten können, vielmehr müsste der Satz (wenigstens bei dem ersten Hören und Verstehen) angenommen und ihm als eine unzweifelhafte Wahrheit zugestimmt werden, bei der Niemand Bedenken haben kann. Deshalb hängt die Wahrheit aller Moralregeln von andern ihnen vorgehenden ab, aus denen sie abgeleitet werden müssen; dies könnte aber nicht sein, wenn sie angeboren, oder so viel als selbstverständlich wären.
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