§ 21. (Diese Grundsätze werden meist nicht eher gekannt, als bis sie aufgestellt worden; und dies beweist, dass sie nicht angeboren sind .) Damit ist es indess in Bezug auf diese Zustimmung zu Sätzen, so wie man sie das erste Mal hört und versteht, noch nicht abgethan; es ist zunächst hier zu bemerken, dass diese Zustimmung, anstatt ein Zeichen des Eingeborenseins zu sein, vielmehr der Beweis des Gegentheils ist, weil dabei vorausgesetzt wird, dass die, welche andere Dinge verstehen und kennen, diese Grundsätze so lange nicht kennen, als sie ihnen nicht vorgesagt werden, und dass man mit diesen Wahrheiten so lange unbekannt sein kann, als man sie nicht von Anderen gehört hat. Wären- sie angeboren, was bedürfte es da ihrer Aufstellung, um die Zustimmung zu erlangen; da sie, wenn sie dem Verstande ursprünglich und von Natur eingeprägt wären (vorausgesetzt, es gäbe solche Sätze), schon vorher bekannt sein mussten? Soll etwa die Aufstellung derselben sie der Seele klarer eindrücken, als die Natur es gethan? Ist dies der Fall, so folgt, dass man sie besser kennt, wenn man sie so gelernt hat, als vorher. Daraus folgt weiter, dass diese Grundsätze selbstverständlicher für uns sind, wenn Andere sie uns lehren, als vermittelst der blossen Einprägung durch die Natur. Dies stimmt aber schlecht mit der Lehre von angeborenen Grundsätzen und unterstützt sie wenig; im Gegentheil werden sie damit unfähig, die Grundlagen unseres ganzen Wissens zu bilden, was sie doch sein sollen. Man kann nicht bestreiten, dass man mit manchen dieser selbstverständlichen Grundsätze erst bei deren Aufstellung bekannt wird; offenbar bemerkt also Der, dem dies begegnet, dass er einen Satz kennen lernt, der ihm vorher unbekannt war, und wenn er ihn von da ab nicht mehr bezweifelt, so kommt dies nicht von dessen Angeborensein, sondern weil die Rücksicht auf die Natur des in diesen Worten enthaltenen Inhalts es ihm nicht gestattet, ihn anders aufzufassen, wenn bei spätem Gelegenheiten dieser Satz ihm wieder vorkommt. Soll Etwas, dem man bei dem ersten Hören und Verstehen zustimmt, allemal für einen angeborenen Grundsatz gelten, so ist jede wohl begründete Betrachtung, die aus Einzelnem zu einer allgemeinen Regel sich erhebt, angeboren. Dessenungeachtet macht nicht Jedweder, sondern nur scharfsinnige Menschen zuerst diese Betrachtungen, nur diese führen sie auf allgemeine Sätze zurück, die also nicht angeboren, sondern aus vorgebenden Erfahrungen und dem Nachdenken über einzelne Fälle abgenommen sind. Wenn Beobachter solche Sätze gebildet haben, so können dann die Nicht-Beobachter, ohne eigenes Nachdenken, bei dem Hören derselben ihnen die Zustimmung nicht versagen.
§ 22. ( Das »unentwickelte Wissen« solcher Sätze sagt entweder nur, dass der Verstand sie begreifen kann, oder es hat keinen Sinn .) Man sagt auch, dass der Verstand vor dem ersten Hören solcher Sätze eine unentwickelte Kenntniss derselben habe, und nur keine entwickelte. (So muss man sprechen, wenn man behauptet, dass diese Sätze vor ihrem Wissen in dem Verstande seien.) Allein man kann sich schwer vorstellen, was mit einer solchen unentwickelten Einprägung eines Grundsatzes in den Verstand gemeint ist; es wäre denn, die Seele sei fähig, solche Sätze zu verstehen und ihnen fest zuzustimmen. Dann müssen aber alle mathematischen Beweise, ebenso wie die obersten Grundsätze, als natürliche Einprägungen der Seele gelten, obgleich man dies schwerlich zugeben wird, da man einen Satz schwerer beweisen, als dem Bewiesenen zustimmen kann. Nur wenige Mathematiker werden glauben wollen, dass alle Figuren, die sie gezeichnet, nur Abbilder der angeborenen Gestaltungen seien, welche die Natur in ihre Seele eingeprägt habe.
§ 23. ( Der Grund, welcher aus der Zustimmung beim ersten Hören entnommen wird, beruht auf der falschen Annahme, dass keine Unterweisung dabei vorhergegangen sei .) Noch eine andere schwache Seite hat der Grund, dass die Sätze, denen man bei dem ersten Hören zustimmt, desshalb als angeboren gelten, weil man hierbei Sätzen zustimme, die nicht gelehrt seien und die ihre Kraft von keinem Gründe und Beweise ableiten, sondern nur einer einfachen Erklärung und des Verständnisses der Worte bedürfen. Mir scheint hier nämlich die Täuschung unterzuliegen, dass man meint, der Mensch könne nichts lernen und über nichts belehrt werden de novo, obgleich in Wahrheit er das, was er lernt oder gelehrt erhält, vorher nicht gekannt hat. Denn erstens ist klar, dass der Mensch die Worte und ihre Bedeutung gelernt hat, was Beides ihm nicht angeboren gewesen ist; dies sind indess noch nicht all die erlernten Kenntnisse; auch die Vorstellungen selbst, welche der Satz befasst, sind so wenig wie die Worte angeboren, sondern erst später erworben. Daher sind bei allen Sätzen, denen man bei dem ersten Hören zustimmt, weder die Worte und ihre Verbindung mit den Vorstellungen noch diese selbst angeboren. Was bleibt nun aber nach Abzug dessen an den Sätzen noch Angeborenes übrig? Ich möchte wohl, dass man mir einen Satz angäbe, wo entweder die Worte oder die Vorstellungen angeboren sind. Im Gegentheil erwerben wir die Vorstellungen und Worte allmählich und ebenso ihre passende Verbindung mit einander; erst dann stimmten wir bei dem ersten Hören den Sätzen zu, die in Worten ausgedrückt sind, deren Bedeutung wir gelernt haben, und bei denen wir die Zusammenstimmung oder Nicht-Zusammenstimmung der verbundenen Worte verstehen; während wir gleichzeitig solchen Sätzen nicht beistimmen können, die zwar in sich ebenso gewiss und überzeugend sind, aber Vorstellungen befassen, die wir noch nicht so schnell oder so leicht erlangt haben. So stimmt ein Kind leicht dem Satze zu, dass ein Apfel kein Feuer ist, wenn es durch genaue Bekanntschaft sich die Vorstellungen dieser zwei verschiedenen Dinge in seiner Seele eingeprägt hat, und es die Worte Apfel und Feuer als die Bezeichnung dieser Dinge gelernt hat; allein wahrscheinlich wird dasselbe Kind erst mehrere Jahre später dem Satze beistimmen, dass dasselbe Ding unmöglich sein und nicht-sein kann. Die Worte sind hier vielleicht ebenso leicht zu lernen, aber ihre Bedeutung ist weiter, umfassender und abgetrennter als die Worte, welche den sinnlichen Dingen beigelegt werden, mit denen das Kind sich beschäftigt. Deshalb lernt es erst nach längerer Zeit den Sinn jener Worte, und es braucht mehr Zeit, um in seiner Seele die allgemeinen damit verknüpften Vorstellungen zu bilden. Vorher wird man vergebens die Zustimmung des Kindes zu solchen allgemein gefassten Sätzen zu erlangen suchen; sobald es aber diese Vorstellungen gewonnen und ihre Worte kennen gelernt hat, so stimmt es ebensowohl dem einen wie dem andern Satze bereitwillig zu, und zwar aus ein- und demselben Grunde, nämlich weil es findet, dass die Vorstellungen in seiner Seele ebenso mit einander stimmen oder nicht stimmen, wie sie in den Sätzen mit einander verbunden oder von einander verneint sind. Sagt man ihm aber Sätze in Worten, die Vorstellungen bezeichnen, welche es noch nicht in seiner Seele hat, so stimmt es solchen Sätzen, wenn sie auch noch so offenbar wahr oder falsch sind) weder zu noch nicht zu, sondern entscheidet sich zu nichts; weil Worte, die keine Zeichen unserer Vorstellungen sind, nur leere Töne bleiben. Deshalb kann man ihnen nur so weit zustimmen, als sie Vorstellungen bezeichnen, die man besitzt. Die nähere Darlegung der Mittel und Wege, auf welchen die Seele ihr Wissen erwirbt, und die Gründe für die verschiedenen Grade der Zustimmung werden später zur Untersuchung kommen; deshalb sind sie hier nur als einer der Gründe berührt worden, die mich an den angeborenen Grundsätzen zweifeln lassen.
§ 24. ( Sie sind nicht angeboren, denn die Zustimmung zu ihnen ist keine allgemeine .) Um mit diesem, aus der allgemeinen Zustimmung entnommenen Grunde abzuschliessen, gab ich den Vertheidigern angeborner Grundsätze zu, dass sie, wenn sie angeboren sind, allgemeine Zustimmung finden müssen; denn ich könnte es nicht verstehen, dass eine Wahrheit zwar angeboren wäre, aber doch keine Zustimmung fände; dies wäre ebenso, als wenn ein Mensch eine Wahrheit wüsste und sie doch nicht wüsste. Allein nach dem eignen Zugeständniss dieser Vertheidiger können sie nicht angeboren sein, weil Diejenigen ihnen nicht zustimmen, welche die Worte nicht verstehen oder welche diese Worte zwar verstehen, aber solche Sätze noch nicht gehört oder bedacht haben, und dies wird, glaube ich, mindestens die Hälfte aller Menschen sein. Aber selbst wenn die Zahl viel kleiner wäre, genügte sie, die allgemeine Zustimmung aufzuheben, und selbst wenn nur die Kinder diese Sätze nicht kennten, würde dies schon ergeben, dass sie nicht angeboren sind.
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