§ 5. ( Auch sind sie nicht von Natur der Seele eingeprägt, da Kinder, Dumme und Andere sie nicht kennen .) Denn erstens ist klar, dass Kinder und dumme Menschen nicht die leiseste Vorstellung oder einen Begriff davon haben; dieser Mangel genügt, um jene allgemeine Zustimmung aufzuheben, welche nothwendig alle angebornen Wahrheiten begleiten müsste. Es scheint mir ein Widerspruch, dass der Seele Wahrheiten eingedrückt seien, die sie nicht bemerkt oder nicht versteht; denn dieses »Eingedrückte« kann, wenn es überhaupt Etwas bedeuten soll, nur bewirken, dass gewisse Wahrheiten gewusst werden, und ich kann nicht Verstehen, wie Etwas der Seele eingeprägt sein könnte, ohne dass sie es bemerkte. Wenn daher. Kinder und dumme Menschen eine Seele oder einen Verstand mit solchen Einprägungen haben, so müssen sie sie auffassen, sie kennen und diesen Wahrheiten beistimmen, und da sie dies nicht thun, kann es solche Eindrücke nicht geben. Denn wenn sie keine von Natur eingeprägten Begriffe sind, wie können sie da angeboren sein? und wenn diese Begriffe eingeprägt sind, wie können sie da nicht gewusst werden? Sagt man: ein Begriff sei der Seele eingeprägt, und zugleich: die Seele kenne ihn nicht und habe ihn nie bemerkt, so macht man diese Einprägung zunichte. Kein Satz kann in der Seele bestehen, den sie niemals gekannt hat und dessen sie sich niemals bewusst gewesen ist. Wäre dies bei einem möglich, so könnte man aus demselben Grunde sagen, dass alle Sätze, die wahr sind und denen überhaupt die Seele zustimmen kann, in der Seele bestehen und ihr eingeprägt seien. Wenn man von einem sagen kann, er sei in der Seele, obgleich sie ihn nie gewusst hat, so kann es nur deshalb geschehen, weil die Seele fähig ist, ihn kennen zu lernen, und dann gilt dies für alle Wahrheiten, die sie je erfassen wird; ja es sind dann auch jene Wahrheiten der Seele eingeprägt, welche sie niemals gekannt hat, noch kennen wird, da ein Mensch lange leben kann und doch, wenn er stirbt, viele Wahrheiten nicht kennen kann, zu deren Kenntniss und zwar sicherer Kenntniss seine Seele die Fähigkeit hatte. Soll also diese behauptete natürliche Einprägung nur die Fähigkeit zum Wissen bezeichnen, so werden alle Wahrheiten, die Jemand allmählich kennen lernt, zu den angebornen gehören und diese grosse Frage sinkt dann zu einer blossen unpassenden Redeweise herab, die, während sie das Gegentheil scheinbar behauptet, doch nur dasselbe sagt wie die, welche die angebornen Grundsätze bestreiten; denn Niemand hat wohl je geleugnet, dass die Seele zur Erkenntniss gewisser Wahrheiten fähig ist. Sagt man, die Fähigkeit ist angeboren, die Kenntniss erworben, wozu dann dieser Kampf für gewisse angeborne Grundsätze? Können Wahrheiten dem Verstand eingeprägt sein, ohne dass er sie bemerkt, so finde ich in Bezug auf ihren Ursprung keinen Unterschied gegen Wahrheiten, die die Seele fähig ist zu erkennen; entweder müssen alle angeboren oder alle erworben sein, und man sucht dann vergeblich nach einem Unterschied zwischen denselben. Wenn daher Jemand von der Seele angebornen Begriffen spricht (sofern er dabei eine bestimmte Art von Wahrheiten meint), so kann er darunter nicht solche Wahrheiten verstehen, die der Verstand nie aufgefasst hat und die er gar nicht kennt. Denn wenn die Worte: »in dem Verstande sein« überhaupt etwas bedeuten, so ist es, dass sie vom Verstande erfasst sind. Mithin wollen Ausdrücke, wie: »In dem Verstand sein, aber nicht verstanden sein«, »In der Seele sein und nie bemerkt sein«, ebenso so viel sagen, als: Etwas ist und ist nicht in der Seele, oder in dem Verstande. Wenn daher jene Sätze: »Was ist, das ist«, und: »dasselbe Ding kann sein und nicht sein«, von Natur eingeprägt sind, so müssen die Kinder sie kennen; Kinder und Jeder, der eine Seele hat, müssen sie dann in ihrem Verstande haben, ihre Wahrheit kennen und ihr zustimmen.
§ 6. (Auf den Einwand wird geantwortet, dass die Menschen die Grundsätze kennen, wenn sie zum Gebrauch ihrer Vernunft kommen .) Um dem zu entgehen, sagt man gewöhnlich, dass alle Menschen sie kennen und ihnen zustimmen, wenn sie zu dem Gebrauche ihrer Vernunft kommen, und dies genüge für den Beweis, dass sie angeboren seien. Ich antworte:
§ 7. Schwankende Ausdrücke, die kaum Etwas bedeuten, gelten bei Denen für klare Gründe, die in ihrer Voreingenommenheit sich nicht die Mühe nehmen, ihre eigenen Worte zu prüfen; denn soll diese Erwiderung auf unsere Frage irgend passen, so muss sie eins von den beiden sagen: entweder, dass diese angeblichen natürlichen Eindrücke, sobald die Menschen zum Gebrauch ihrer Vernunft kommen, von ihnen gewusst und bemerkt werden; oder: dass der Gebrauch und die Hebung der Vernunft dem Menschen diese Grundsätze entdecken hilft und ihm die gewisse Kenntniss derselben gewährt.
§ 8. (Selbst wenn man sie durch die Vernunft entdeckt, so beweist dies nicht ihr Angeborensein ). Sollen diese Grundsätze nur durch den Gebrauch der Vernunft entdeckt werden und dies zum Beweis genügen, dass sie angeboren seien, so hiesse dies so viel, als dass jedwede Wahrheit, die die Vernunft sicher entdecken kann und der sie zustimmt, von Natur der Seele eingeprägt sei; weil dann die allgemeine Zustimmung, die dass Kennzeichen sein soll, nur sagt, dass durch den Gebrauch der Vernunft man fähig wird, gewisse Kenntnisse zu gewinnen und ihnen zuzustimmen. Dann ist aber kein. Unterschied mehr zwischen den Grundsätzen (Axiomen) der Mathematiker und den Lehrsätzen, die sie daraus ableiten; sie sind dann alle gleich angeboren, weil sie alle durch den Gebrauch des Verstandes entdeckt werden und Wahrheiten sind, die ein vernünftiges Geschöpf erlangen kann, wenn es sein Denken in rechter Weise gebraucht.
§ 9. ( Die Vernunft entdeckt sie nicht ). Wie können aber Jene annehmen, dass der Gebrauch der Vernunft zur Entdeckung von angeblich angebornen Grundsätzen nöthig sei, wenn die Vernunft (sofern man ihnen glaubt) nur das Vermögen ist, was unbekannte Wahrheiten aus bereits bekannten Grundsätzen oder Lehrsätzen ableitet? Das, was man erst durch die Vernunft entdecken muss, kann sicherlich niemals für angeboren gelten, wenn man nicht, wie gesagt, alle von der Vernunft uns gelehrte sichere Wahrheiten zu angebornen machen will. Man kann dann auch ebenso den Gebrauch der Vernunft für nothwendig halten, damit die Augen die sichtbaren Dinge wahrnehmen, und dass die Vernunft oder ihr Gebrauch nöthig ist, damit der Verstand das sehe, was ihm ursprünglich eingeprägt ist, und was nicht in dem Verstande sein kann, bevor er es wahrgenommen hat. Lässt man die Vernunft diese so eingeprägten Wahrheiten entdecken, so heisst das so viel, als der Gebrauch der Vernunft entdeckt, was sie schon vorher wusste. Haben aber die Menschen diese angebornen und eingeprägten Wahrheiten ursprünglich und vor dem Gebrauch ihrer Vernunft und kennen sie sie doch nicht eher, als bis sie zu dem Gebrauch ihrer Vernunft gelangen, so sagt man in Wahrheit damit, dass die Menschen sie kennen und zugleich nicht kennen.
§ 10. Man entgegnet hier vielleicht, dass mathematischen Beweisen und andern nicht angebornen Wahrheiten nicht gleich bei ihrer Aufstellung zugestimmt werde, und dass sie sich darin von den Grundsätzen und angebornen Wahrheiten unterscheiden. Ich werde später über die bei der ersten Aufstellung eines Satzes erfolgende Zustimmung ausführlicher sprechen; will indess hier gern einräumen, dass diese Grundsätze sich von den mathematischen Beweisen unterscheiden, dass letztere der Gründe und der Beweise bedürfen, um sie als ausgemacht anzunehmen und ihnen zuzustimmen, während die ersten sofort, wenn sie verstanden sind, ohne alle Begründung angenommen werden, und ihnen zugestimmt wird. Allein damit wird gerade die Schwäche dieser Ausflucht dargelegt, wonach der Gebrauch der Vernunft für die Entdeckung dieser allgemeinen Wahrheiten verlangt wird, obgleich man doch einräumen muss, dass zu deren Entdeckung von der Vernunft gar kein Gebrauch gemacht wird; und ich denke, die, welche so antworten, werden nicht gern behaupten, dass die Kenntniss des Grundsatzes: »Ein Ding kann nicht sein und nicht-sein«, aus unserer Vernunft erst abgeleitet sei; denn dies würde jene ihnen so liebe Freigebigkeit der Natur aufheben, wenn die Kenntniss dieser Grundsätze von der Arbeit unseres Denkens abhängig wäre; denn alles Begründen ist ein Suchen und Umherblicken, was Mühe und Ausdauer verlangt. Wie kann man ferner verständiger Weise annehmen, dass das, was die Natur als Grundlage und Führerin der Vernunft eingeprägt haben soll, nur mittelst des Gebrauches der Vernunft gefunden werden könne?
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