§ 6. ( Die Kenntniss unserer Vermögen schützt vor Zweifelsucht und Trägheit .) Wenn man seine eigenen Kräfte kennen gelernt hat, so kann man besser wissen, was man mit Aussicht auf Erfolge unternehmen kann, und hat man die Kräfte seines Geistes wohl überschaut und überschlagen, was sich von ihnen erwarten lässt, so wird man weder still sitzen und sein Denken gar nicht gebrauchen wollen, weil man an der Erkenntniss von Allem verzweifelt; noch umgekehrt Alles in Zweifel ziehen und alle Erkenntniss leugnen, weil Manches nicht erkannt werden kann. Dem Schiffer ist die Kenntniss von der Länge seines Lothseils sehr nützlich, wenn er auch nicht alle Tiefen des Meeres damit ergründen kann; es genügt, dass er weiss, es sei lang genug, um den Grund da zu erreichen, wo es auf die Richtung seiner Weges und auf Schutz gegen Untiefen ankommt, die ihm verderblich werden könnten. Wir haben hier nicht Alles zu erkennen, sondern nur das, was unsern Lebenswandel betrifft. Kann man die Mittel ausfindig machen, durch welche ein vernünftiges Wesen, was in dem Zustande, wie der Mensch, in die Welt gesetzt ist, sein Fürwahrhalten und sein davon abhängiges Handeln leiten kann, so braucht man sich darüber nicht zu beunruhigen, dass einige andere Dinge sich unserer Erkenntniss entziehen.
§ 7. (Der Anlass zu diesem Versuche .) Dies veranlasste mich zunächst zu diesem Versuche über den Verstand. Ich meinte, dass der erste Schritt für eine befriedigende Untersuchung jener Dinge, in die der Mensch so leicht sich vertieft, darin bestände, dass man die eigenen geistigen Vermögen überschaue, seine Kräfte prüfe und sehe, wofür sie geeignet sind. Ehe dies nicht geschehen, fängt man, fürchte ich, bei dem falschen Ende an. Man sucht vergeblich nach dem zufriedenstellenden, ruhigen und sichern Besitz der für uns wichtigsten Wahrheiten, wenn man seine Gedanken auf dem weiten Meer der Dinge so schweifen lässt, als wäre dieser grenzenlose Raum das natürliche und unzweifelhafte Eigenthum unseres Verstandes, als entziehe sich darin Nichts seiner Entscheidung, und als entschlüpfe Nichts seiner Erkenntniss. Wenn die Menschen in dieser Weise ihre Untersuchungen weit über ihr Vermögen ausdehnen und ihre Gedanken in Tiefen schweifen lassen, wo sie keinen festen Fuss fassen können, so darf man sich nicht wundern, wenn sich Fragen erheben und Streitigkeiten häufen, die niemals zu einer klaren Lösung gelangen und deshalb nur dazu dienen, die Zweifel zu erhalten und zu vermehren und den Menschen zuletzt in den vollständigen Skeptizismus zu stürzen. Sind dagegen die Fähigkeiten unseres Verstandes wohl betrachtet, die Grenzen unseres Wissens einmal ermittelt und der Gesichtskreis gefunden, welcher den hellen und dunklen Theil der Dinge, das Erkennbare und Nicht-Erkennbare scheidet, so wird man leichter sich bei der eingestandenen Unkenntniss des einen Theils beruhigen und seine Gedanken und Reden mit mehr Nutzen und Genugthuung dem andern zuwenden.
§ 8. ( Was das Wort: Vorstellung bedeutet .) So viel glaubte ich über den Anlass zu dieser Untersuchung des menschlichen Verstandes sagen zu müssen. Ehe ich jedoch zu meinen Gedanken über diesen Gegenstand übergehe, muss ich hier in dem Beginn den Leser wegen des häufigen Gebrauchs des Wortes: »Vorstellung« in der folgenden Abhandlung um Entschuldigung bitten. Dieses Wort passt nach meiner Ansicht am besten zur Bezeichnung von Allem, was der Mensch denkt, mag der Gegenstand seines Denkens sein, welcher er wolle. Ich gebrauche es zur Bezeichnung von dem, was man unter Einbildungen, Begriffen, Arten u.s.w. versteht, oder womit irgend die Seele beim Denken sich beschäftigen kann; ich. habe die häufige Benutzung dieses Wortes nicht vermeiden können, und man wird mir hoffentlich zugeben, dass solche Vorstellungen in der menschlichen Seele sind; Jeder ist sich deren in seinem Innern bewusst, und die Reden und Handlungen Anderer können ihn überzeugen, dass sie auch in Andern bestehen.
Ich will daher zunächst untersuchen, wie sie in die Seele kommen.
Zweites Kapitel.
Es giebt keine angebornen Grundsätze in der Seele
Inhaltsverzeichnis
§ 1. ( Der Weg, wie wir zu unsern Kenntnissen gelangen, und dass sie nicht angeboren sind, wird gezeigt .) Für Manche ist es eine ausgemachte Sache, dass in dem Verstände angeborne Grundsätze bestehen oder gewisse Urbegriffe, koinai ennoiai , gleichsam der menschlichen Seele eingeprägte Schriftzeichen, welche sie bei ihrem ersten Entstehen erhält und mit auf die Welt bringt. Für unbefangene Leser würfle es genügen, um sie von der Unrichtigkeit dieser Annahme zu überzeugen, wenn ich blos zeigte (wie es hoffentlich in den folgenden Abschnitten dieser Abhandlung geschehen wird), dass die Menschen lediglich durch den Gebrauch ihrer natürlichen Vermögen, ohne Hülfe von angebornen Eindrücken, all die Kenntniss erlangen, die sie besitzen, und wie sie ohne solche Urbegriffe oder Grundsätze zur Gewissheit gelangen. Jedermann wird hoffentlich anerkennen, dass es unverschämt wäre, wenn man bei einem Geschöpf die Vorstellungen der Farben für angeboren annehmen wollte, welchem der Schöpfer das Gesicht und die Macht gegeben hat, die Farben durch die Augen von äussern Gegenständen aufzunehmen; ebenso unbegründet würde es sein, wenn man gewisse Wahrheiten von natürlichen Eindrücken und angebornen Schrift-Zeichen ableiten wollte, da Fähigkeiten in uns angetroffen werden, die ebenso geeignet sind, diese Erkenntniss leicht und sicher zu erwerben, als wenn sie dem Menschen angeboren wäre.
Da indess bei der Aufsuchung der Wahrheit Niemand, ohne getadelt zu werden, seinen eignen Gedanken folgen kann, sobald sie ihn auch nur ein wenig von der grossen Heerstrasse abführen, so führe ich die Gründe an, die mich an der Wahrheit dieser angebornen Grundsätze haben zweifeln lassen; sie mögen mich zugleich entschuldigen, wenn ich irren sollte. Ich überlasse die Prüfung dieser Gründe Denen, welche mit mir die Wahrheit überall, wo sie sie finden, aufzunehmen bereit sind.
§ 2. ( Die allgemeine Zustimmung ist der Hauptgrund für die angebornen Grundsätze .) Nichts hält man für unzweifelhafter, als dass gewisse Grundsätze, sowohl theoretische wie praktische (denn von beiden wird gesprochen), von Jedermann anerkannt werden; deshalb, schliesst man, müssen sie bleibende Eindrücke sein, welche die menschliche Seele bei ihrem ersten Entstehen empfangen und mit sich ebenso nothwendig und wirklich auf die Welt gebracht hat, wie die ihr einwohnenden Vermögen.
§ 3. ( Die allgemeine Zustimmung beweist nichts für das Angeborensein .) Dieser der allgemeinen Uebereinstimmung entnommene Grund hat indess den Uebelstand an sich, dass, wenn es thatsächlich richtig wäre, dass alle Menschen in gewissen Wahrheiten übereinstimmten, er nicht deren Eingeborensein bewiese, sofern noch ein anderer Weg aufgezeigt werden kann, auf dem die Menschen in den Diagen, wo sie übereinstimmen, zu dieser allgemeinen Zustimmung kommen; und dieser Weg dürfte sich zeigen lassen.
§ 4. ( Die Sätze der Dieselbigkeit und des Widerspruchs sind nicht allgemein anerkannt .) Aber schlimmer ist es, dass dieser von der allgemeinen Zustimmung entlehnte Grund, um die eingebornen Grundsätze zu beweisen, mir eher zu beweisen scheint, dass es deren keine giebt, denen alle Menschen zustimmen. Ich beginne mit den theoretischen und nehme als Beispiel jene gerühmten Grundsätze des Beweisens: »Was ist, das ist«, und: »Es ist für ein und dasselbe Ding unmöglich, zu sein und nicht-zu-sein«, die, glaube ich, noch am meisten von allen als angeborne gelten könnten. Ihr Ansehen, als allgemein anerkannte Grundsätze, steht so fest, dass es sonderbar erscheinen würde, wenn Jemand sie bezweifeln wollte. Dennoch sind diese Grundsätze so fern von der allgemeinen Zustimmung, dass ein grosser Theil der Menschen sie nicht einmal kennt.
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