§ 26. Hiernach kann man leicht abnehmen, weshalb die Menschen die in ihrer Seele aufgerichteten Götzenbilder verehren, die Begriffe festhalten, mit denen sie seit langer Zeit bekannt gemacht worden sind, und weshalb sie Verkehrtheiten und Irrthümern den Stempel der Göttlichkeit aufdrücken, eifrige Anbeter von Stieren und Affen werden und für die Vertheidigung dieser Meinungen kämpfen, fechten und den Tod erleiden. »Denn nur die können nach seiner Meinung Götter sein, die er selbst verehrt.« Die geistigen Vermögen der Seele, die zwar ohne Unterlass, aber nicht immer sorgsam und weise angewendet werden, können sich in den meisten Menschen aus Mangel einer Grundlage und eines Bodens nicht entwickeln. Aus Trägheit oder Zerstreuung, oder aus Mangel an Zeit, an Hülfe oder aus andern Ursachen können sie zu den letzten Grundlagen der Erkenntniss nicht vordringen und die Wahrheit nicht bis zu ihrer Quelle und ihrem Ursprung verfolgen; deshalb greifen sie natürlich, ja beinah unvermeidlich einzelne erborgte Grundsätze auf, die nun als die sichern Beweise für alles Andere gelten und deshalb nicht selbst eines Beweises bedürfen. Wenn irgend Jemand solche Grundsätze in sich aufnimmt und mit der Ehrfurcht, die man gewöhnlich Grundsätzen zollt, bei sieh hegt, dabei sie nicht zu prüfen wagt, sondern sich an den Glauben an sie gewöhnt, weil sie geglaubt werden sollen, so kann er in Folge seiner Erziehung und der Landessitte jede beliebige Verkehrtheit für einen angeborenen Grundsatz halten, und das lange Hinstarren auf denselben Gegenstand kann seinen Blick so verdunkeln, dass er die in seinem Gehirn steckenden Ungeheuer für das Bild der Gottheit und ihr Werk nimmt.
§ 27. ( Die Grundsätze bedürfen der Prüfung .) Wie Viele auf diese Weise zu Grundsätzen kommen, die sie für angeboren halten, ergiebt sich leicht aus der Mannichfaltigkeit der einander widersprechenden Grundsätze, welche von allen Klassen und Ständen der Menschen festgehalten und vertheidigt werden. Wer nicht anerkennt, dass auf diese Weise die Menschen zu der Ueberzeugung von der Wahrheit und Gewissheit ihrer Grundsätze gelangen, wird schwer einen andern Weg für jene sich widerstreitenden Grundsätze angeben können, die fest geglaubt, vertrauensvoll behauptet werden, und welche Viele jederzeit mit ihrem Blute zu besiegeln bereit sind. Ist es wirklich das Vorrecht angeborener Grundsätze, dass man sie ohne Prüfung auf ihr eigenes Ansehn annimmt, so wüsste ich nicht, was nicht Alles geglaubt werden könnte, und wie die Grundsätze irgend Jemandes in Zweifel gezogen werden können. Sollen sie aber geprüft und erprobt werden, so möchte ich zuvor wissen, wie man die höchsten und angeborenen Grundsätze prüfen soll; wenigstens darf man sich dann die Kennzeichen und Eigenschaften erbitten, durch die man die ächten von den falschen unterscheiden kann, damit man in Mitten einer solchen Menge von Ansprüchen, bei einem so wichtigen Punkte sich vor Missgriffen schützen könne. Ist dies geschehen, so werde ich gern solche willkommene und nützliche Sätze festhalten; bis dahin sei es mir aber gestattet, zu zweifeln; denn die allgemeine Zustimmung, auf die allein man sich beruft, kann schwerlich das sichere Zeichen für die Leitung meiner Wahl sein und mir von irgend einem angeborenen Grundsatze Gewissheit geben. Nach dem bisher Gesagten ist es wohl unzweifelhaft, dass es keine praktischen Grundsätze giebt, in denen alle Menschen übereinstimmen, und deshalb auch keine, die angeboren sind.
Viertes Kapitel.
Fernere Betrachtungen über angeborne theoretische und praktische Grundsätze
Inhaltsverzeichnis
§ 1. ( Grundsätze sind nicht angeboren, wenn ihre Begriffe es nicht auch sind .) Wenn Die, welche uns der angeborenen Grundsätze überführen wollen, sie nicht in Pausch und Bogen genommen, sondern deren Theile einzeln betrachtet hätten, so würden sie vielleicht nicht so schnell sie für angeboren geheilten haben; denn wenn die Begriffe, aus denen diese Wahrheiten bestehen, nicht angeboren sind, so können auch die daraus gebildeten Sätze es nicht sein, und ihre Kenntniss kann uns nicht angeboren sein. Sind diese Begriffe nicht angeboren, so musste es eine Zeit geben, wo die Seele diese Grundsätze noch nicht hatte, und sie sind dann nicht angeboren, sondern aus einer andern Quelle geflossen; denn wo die Begriffe fehlen, da kann es keine Kenntniss, keine Zustimmung, keine Sätze, weder in Gedanken noch in Worten, von ihnen geben.
§ 2. ( Die Begriffe, insbesondere die zu den Grundsätzen gehörenden, sind den Kindern nicht angeboren .) Betrachtet man neugeborene Kinder aufmerksam, so ist wenig Grund vorhanden, dass sie viele Begriffe mit sich auf die Welt brächten. Mit Ausnahme einiger schwachen Vorstellungen von Hunger und Durst, Wärme und etwas Schmerzen, die sie im Mutterleibe empfunden haben mögen, zeigen sie nicht die leiseste Spur von bestimmten Vorstellungen, insbesondere von Begriffen, die den Ausdrücken entsprechen, aus denen die allgemeinen Sätze gebildet sind, welche für angeborene Grundsätze gelten sollen; vielmehr kann man bemerken, wie erst später und allmählich Vorstellungen in ihrer Seele entstehen, und wie sie deren nicht mehr gewinnen, als die Erfahrung und Beobachtung der Gegenstände, welche ihnen in den Weg kommen, sie damit versehen. Schon dies zeigt, dass sie keine ursprünglich der Seele eingeprägte Schrift-Zeichen sind.
§ 3. Der Satz: Dieselbe Sache kann unmöglich sein und nicht sein, ist sicherlich (wenn es deren giebt) ein. angeborener Grundsatz. Kann aber Jemand behaupten, dass die Unmöglichkeit und die Dieselbigkeit zwei angeborene Begriffe seien? Gehören sie zu denen, die alle Menschen haben und mit auf die Welt bringen? Und sind sie die ersten bei den Kindern, die allen erworbenen Begriffen vorausgehen? Dennoch müsste dies sein, wenn sie angeboren wären. Hat ein Kind die Vorstellung der Unmöglichkeit und Dieselbigkeit vor der Vorstellung von weiss und schwarz, süss und bitter? Und schliesst es vermöge dieses Grundsatzes, dass die Brust, wenn sie mit Wermuth bestrichen, nicht so, wie gewöhnlich, schmeckt? Ist es die wirkliche Kenntniss von der Unmöglichkeit des Seins und Nicht-Seins von Etwas, wodurch das Kind seine Mutter von einer Fremden unterscheidet? weshalb es die eine liebt und die andere flieht? Und bestimmt die Seele sich und ihre Zustimmung nach Vorstellungen, die sie noch nicht gehabt hat? Oder zieht der Verstand Folgerungen aus Grundsätzen, die er noch niemals gekannt und verstanden hat? Die Worte: Unmöglichkeit und Dieselbigkeit bezeichnen zwei Vorstellungen, die so wenig uns angeboren oder bei der Geburt eingeflösst sind, dass es vielmehr grosser Sorgfalt und Aufmerksamkeit bedürfen möchte, um sie überhaupt in unserm Wissen richtig zu bilden. Wir haben sie so wenig mit auf die Welt gebracht, sie liegen dem Denken des Kindes und Knaben so fern, dass sogar mancher Erwachsene, wenn er geprüft wird, sie nicht kennen wird.
§ 4. ( Der Begriff der Dieselbigkeit ist nicht angeboren .) Wäre der Begriff der Dieselbigkeit (um bei diesem Beispiel zu bleiben) von Natur uns eingeprägt, mithin so klar und fassbar, dass man ihn schon in der Wiege kennen müsste, so würde ich ebenso von einem siebenjährigen wie einem siebzigjährigen Menschen die Antwort erhalten, ob ein Mensch, der aus Leib und Seele besteht, derselbe bleibt, wenn sein Körper wechselt, und ob Euphorbus und Pythagoras , welche dieselbe Seele hatten, derselbe Mensch waren, obgleich sie in verschiedenen Zeitaltern lebten? ja, ob selbst der Hahn, welcher dieselbe Seele hatte, mit beiden derselbe gewesen sei? Vielleicht ergiebt sich dann, dass die Vorstellung der Dieselbigkeit nicht so bestimmt und klar ist, dass man sie für angeboren halten könnte. Denn wenn diese angeborenen Begriffe nicht klar und bestimmt sind und allgemein gekannt und angenommen sind, so können aus ihnen keine allgemeinen und unzweifelhaften Wahrheiten abgeleitet werden, vielmehr müssen sie dann den Anlass zu steter Ungewissheit geben. Ich nehme nämlich an, dass der Begriff der Dieselbigkeit nicht bei jedem mit dem des Pythagoras und seiner Anhänger übereinstimmt. Welcher ist nun hier der wahre und angeborene? Oder sind, bei zwei verschiedenen Begriffen der Dieselbigkeit, beide angeboren?
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