§ 20. ( Der Einwand, dass angeborene Grundsätze verdorben werden können, wird beantwortet .) Es ändert hierbei nichts, wenn man mit der geläufigen, aber nicht viel bedeutenden Erwiderung kommt, dass angeborene Moral-Grundsätze durch Erziehung, Beispiel und die allgemeine Meinung der Umgebung verdunkelt und zuletzt aus der Seele ganz ausgetilgt werden können. Wäre diese Behauptung wahr, so würde sie den aus der allgemeinen Zustimmung entnommenen Grund umstossen, durch welchen man beweisen will, dass diese Grundsätze angeboren seien; diese Personen müssten denn die Ueberzeugungen ihrer selbst und ihrer Partei für die allgemeine Zustimmung halten. Dies geschieht allerdings nicht selten; Menschen, die sich für die alleinigen Meister der wahren Vernunft halten, werfen die Ansichten und Meinungen der übrigen Menschen als der Beachtung unwerth bei Seite; dann lautet ihr Beweis: »Die von allen Menschen für wahr anerkannten Grundsätze sind angeboren; die von vernünftigen Menschen anerkannten Grundsätze sind solche von allen Menschen anerkannte; wir und unsere Genossen sind vernünftig, des halb erhellt, dass unsere Grundsätze angeboren sind«; was allerdings eine ganz hübsche Art zu beweisen ist, bei welcher der Schritt bis zur Untrüglichkeit sehr kurz ist, zumal es ohnedem schwer ersichtlich wäre, wie es Grundsätze geben kann, welche alle Menschen wissen und anerkennen, und wo dennoch jeder dieser Grundsätze durch Gewohnheit und schlechte Erziehung verdorben und aus der Seele wieder vertilgt werden kann. Dies hiesse so viel, als: »Alle Menschen erkennen es an, aber einige Menschen bestreiten es und sind anderer Ansicht.« In Wahrheit kann die Annahme solcher obersten Grundsätze uns wenig nützen; wir sind mit ihnen und ohne sie in der gleichen Verlegenheit, wenn durch menschliche Macht, nämlich durch den Willen der Lehrer und die Meinungen unserer Umgebung, sie verändert oder verloren werden können. Trotz allen Pochens auf solche oberste Grundsätze und dies angeborene Licht bleibt man ebenso in der Dunkelheit und Ungewissheit, als wenn es dergleichen gar nicht giebt; es ist gleich, ob man keine Regel oder nur eine solche hat, die sich bei jeder Gelegenheit verbirgt, oder ob man unter verschiedenen und entgegengesetzten Regeln die rechte nicht kennt. In Betreff des Angeborenseins der Grundsätze bitte ich deren Vertheidiger, mir zu sagen, ob sie durch Erziehung und Gewohnheit ausgelöscht und vertilgt werden können oder nicht? Ist Letzteres der Fall, so müssen sie bei allen Menschen gleich und überall klar sein, und wenn sie von hinzukommenden Begriffen leiden, so müssen sie, je näher der Quelle, um so klarer und erkennbarer sein, d.h. bei Kindern und Ungebildeten, die noch die wenigsten fremden Eindrücke empfangen haben. Welche Wendung die Vertheidiger dieser angeborenen Grundsätze auch nehmen, sie werden immer finden, dass sie mit den klaren Thatsachen und den täglichen Wahrnehmungen in Widerspruch gerathen.
§ 21. ( Es giebt entgegengesetzte Grundsätze in der Welt .) Ich gebe gern zu, dass es viele Ansichten giebt, welche von Personen verschiedener Länder, Erziehung und Temperament als oberste und unzweifelhafte Grundsätze angenommen und festgehalten werden, obgleich viele davon, sowohl wegen ihrer Verkehrtheit, wie wegen ihres gegenseitigen Widerspruchs unmöglich wahr sein können. Allein trotzdem dass alle diese Sätze der Vernunft gerade entgegen sind, werden sie doch hier oder da für heilig gehalten, so dass selbst Menschen, die sonst verständig sind, lieber ihr Leben und ihre theuersten Güter hingeben, als dass sie sich selbst gestatteten, an deren Wahrheit zu zweifeln, oder Anderen, sie in Frage zu stellen.
§ 22. ( Wie die Menschen meist zu ihren Grundsätzen kommen .) Es mag dies seltsam scheinen, aber die tägliche Erfahrung bestätigt es, und es erscheint viel leicht nicht so wunderbar, wenn man die Wege und Mittel betrachtet, woher es kommt und wie es möglich ist, dass Lehren, die aus keiner bessern Quelle als dem Aberglauben der Ammen und dem Ansehen eines alten Weibes stammen, endlich durch die Länge der Zeit und die Uebereinstimmung der Nachbaren zur Würde von Grundsätzen in der Religion und Moral emporsteigen. Denn Personen, die (wie sie sagen) Kindern gute Grundsätze beibringen wollen (und es giebt nur Wenige, die nicht eine Reihe solcher Grundsätze bei der Hand haben, an die sie glauben), flössen in den sorglosen und noch uneingenommenen Verstand derselben (denn weisses Papier nimmt alle Schriftzüge an) die Lehren ein, welche die Kinder behalten und bekennen sollen. Diese Sätze lehrt man ihnen, sobald sie nur überhaupt Etwas fassen können, und wenn sie heranwachsen, hören sie deren Bestätigung durch offenes Bekenntniss oder stillschweigende Zustimmung Aller, mit denen sie zusammenkommen oder wenigstens Derer, die sie wegen ihrer Weisheit, Kenntnisse und Frömmigkeit hoch schätzen, und die von diesen Sätzen nur als dem Boden und der Grundlage sprechen, auf welchen Religion und Sitte errichtet sind. So gelangen diese Sätze zu dem Ansehen unzweifelhafter selbst gewisser und angeborener Wahrheiten.
§ 23. Dem kann man noch zufügen, dass, wenn so unterrichtete Menschen erwachsen sind und auf ihr Inneres blicken, sie darin nichts finden können, was älter wäre als diese Ansichten, die ihnen gelehrt wurden, ehe noch ihr Gedächtniss ein Verzeichniss ihrer Handlungen führen und die Zeit merken konnte, wo etwas Neues ihnen begegnete. Sie schliessen deshalb mit Sicherheit, dass diese Sätze, von denen sie den Ursprung nicht auffinden können, von Gott kommen und der Natur ihrer Seele eingeprägt worden, und dass Niemand anders sie ihnen gelehrt habe. Mit Ehrfurcht halten sie sie fest und unterwerfen sich ihnen, wie Viele es ihren Eltern gegenüber thun, nicht, weil es natürlich ist, da Kinder, denen es nicht gelehrt ist, nicht so handeln; sondern sie halten es für natürlich, weil sie immer so erzogen worden sind und sich des Anfanges dieser Ehrfurcht nicht mehr entsinnen können.
§ 24. Ein solcher Vorgang erscheint natürlich und beinah unvermeidlich, wenn man die menschliche Natur und die menschlichen Zustände und Verhältnisse berücksichtigt. Die meisten Menschen können sich nur das Leben fristen dadurch, dass sie ihre Zeit zu den Arbeiten ihres Berufs verwenden; sie können daher in ihrem Innern nicht ruhig sein, wenn sie nicht eine Grundlage oder einen Grundsatz haben, an dem sie in ihren Gedanken sich halten können. Selten ist Jemand so schwankend und oberflächlich in seinem Denken, dass er nicht einige hochgeehrte Sätze hätte, die für ihn die Grundlage abgeben, auf welche er seine Beweise stützt, und nach welchen er über Wahrheit und Irrthum, Recht und Unrecht sich entscheidet. Entweder fehlt ihm das Geschick und die Müsse, oder die Neigung; oder man hat ihm gelehrt, dass diese Sätze nicht geprüft werden dürfen. Deshalb nehmen die Meisten aus Unwissenheit, Trägheit oder in Folge ihrer Erziehung oder Voreiligkeit sie für die baare Wahrheit.
§ 25. Offenbar findet dies bei allen Kindern und jungen Personen Statt; die Gewohnheit hat eine grössere Macht als die Natur selbst und lässt sie das als göttlich verehren, wovor ihr Inneres zu beugen und ihren Verstand zu unterwerfen, man ihnen eingeprägt hat. Es ist deshalb kein Wunder, wenn Erwachsene, die mit der täglichen Arbeit beladen sind, oder die nur nach dem Vergnügen jagen, sich um die ernstliche Prüfung ihrer Grundsätze nicht bekümmern, zumal wenn einer dieser Grundsätze verlangt, dass sie überhaupt nicht geprüft werden dürfen. Selbst wenn Jemand Müsse, Geschick und guten Willen hat, wird er es nicht wagen, die Grundlagen all seines frühem Denkens und Handelns zu erschüttern und sich die Schmach zuzuziehen, dass er lange Zeit in Irrthümern und Missverständnissen sich befunden habe. Wer fühlt sich fest genug zum Kampf mit dem Tadel, der überall für die bereit gehalten wird, welche es wagen, von den herrschenden Meinungen ihres Landes oder Standes abzuweichen? Welcher Mann wird sich gelassen darauf vorbereiten, dass er den Namen eines Sonderlings, Zweiflers oder Gottesleugners bekomme, der ihm sicherlich gegeben wird, sobald er den leisesten Zweifel an dem hegt, was die allgemeine Meinung fordert. Er wird um so mehr sich scheuen, diese Grundsätze in Frage zu stellen, da er sie, wie von den Meisten geschieht, für die Schriftzeichen hält, die Gott in seinem Innern aufgerichtet hat, damit sie die Regel und den Prüfstein für jede andere Meinung bilden. Was kann ihn hindern, sie für heilig zu halten, wenn er findet, dass sie zu den frühesten seiner Seele gehören, und die sind, welche auch die Andern am meisten verehren?
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