Der Abschied von ihrem Ausbildungscamp fiel ihnen trotz der Strapazen, denen sie dort ausgeliefert gewesen waren, nicht leicht. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen fühlten sie sich in dem Lager sicher und gut versorgt. Der andere Grund lag wohl an der Fürsorglichkeit und dem Engagement Pulloks, den sie alle schätzen gelernt hatten. Zum Abschied hielt er wieder einmal eine seiner feierlichen Reden. Im Blitzlichtgewitter der Kameras wurde es zu einer sehr emotionalen Rede, von der Pullok selber offenbar am meisten gerührt war. Das hektische Treiben der Reporter und die Sensationsgier der Menschen am Flughafen führten den Astronauten nur allzu deutlich vor Augen, dass diese feierliche Verabschiedung wie eine letzte Segnung von Opfertieren gesehen wurde, ehe man sie zur Schlachtbank führte.
Besonders Erik fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, denn er hasste den ganzen Zirkus, der da um sie gemacht wurde. Er war deshalb sogar mit Pullok in Streit geraten. „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, hatte er gefaucht. Pullok hatte gekränkt geantwortet: „Aber Erik, ich weiß nicht, was du hast, ohne Presse und Fernsehen läuft doch nichts mehr auf unserer medienbesessenen Welt.
Übrigens solltest du dich freuen, die in alle Teile der Welt übertragene Zeremonie steigert doch deine Berühmtheit!“ „Gerade die ist mit zuwider“, hatte Erik geknurrt. „Man kann keinen Schritt mehr tun, ohne dass einem die Medienhyänen auflauern. Das ganze Privatleben ist im Eimer! Und zu allem Überfluss muss ich von dir erfahren, dass wir das Fernsehen noch mit ‚Geschichten aus dem Cockpit der PROMETHEUS‘ beglücken dürfen. Seid Ihr jetzt ganz meschugge geworden? Wir sind doch keine Schauspieler! Ich versuche mir gerade Gregori als publikumswirksamen Weltraumhelden vorzustellen – ein reizender Gedanke!“
Pullok winkte ab: „Gregori kommt gar nicht ins Bild, er wird die Kamera bedienen. Wir haben das alles schon bis ins Kleinste geplant und die Fernsehrechte sind auch schon verkauft. Sie wurden uns förmlich aus den Händen gerissen.“ „Kann ich mir denken“, meinte Erik wütend. „Und uns hat man erst gar nicht gefragt!“ „Wir dachten, ihr wäret begeistert“, entgegnete Pullok unschuldig. „Schließlich wird dadurch eure langweilige Routine an Bord etwas aufgelockert und ihr werdet als angehende Filmstars noch berühmter, als ihr es eh schon seid. Denk doch auch mal an das viele Geld, das uns eure Show einbringen wird. Die NASA musste Milliarden an Krediten aufnehmen, um die Finanzierungslücke für euer Unternehmen zu schließen. Da ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn ihr auch einen kleinen Beitrag leistet.“ „Ich weiß zwar, dass die NASA notorisch klamm ist, aber dass du uns klammheimlich an die Medienhaie verhökert hast, ohne uns vorher auch nur zu fragen, das will mir nicht in den Kopf.“ „Ich teile es dir doch jetzt in aller Form mit und bis es so weit ist, vergehen noch Monate“, entgegnete Pullok erstaunt.
So war der Streit um die Übertragung von Fernsehsendungen noch einige Zeit weitergegangen, bis es Erik zu viel wurde und er Pullok wortlos stehen ließ. Jetzt, unter dem Ansturm der Medien auf dem Flugfeld, kochte die Erinnerung an den Streit in Erik wieder hoch. Er starrte Pullok finster an, der gerade in Anlehnung an Neil Armstrong den Flug zum Mars als einen riesigen Schritt für die Menschheit pries.
Kapitel 2
Auf der ISS
Die Verabschiedung der Astronauten auf dem Flughafen von Houston war, was die Medien betraf, allerdings ein Klacks im Verhältnis zu dem, was sie auf Cape Canaveral erwartete. Praktisch jede Fernsehstation, die etwas auf sich hielt, hatte ein Aufnahmeteam vor Ort, als die fünf Astronauten zur ISS starteten. Erik atmete auf, als bei ihrem Shuttle die Türe des Cockpits hinter ihnen einrastete und die Augen der Öffentlichkeit ausschloss.
Seine ärgerliche Anspannung wich, denn was jetzt kam, war ihm vertraut. Bei den drei Raumflugneulingen dagegen nahm sie eher noch zu. Julia wirkte ungewöhnlich bleich, als sie sich mit fahrigen Bewegungen die Gurte ihrer Andrucksliege umschnallte. Auch Louis hatte viel von seiner Fröhlichkeit eingebüßt und musterte mit ernster Miene das Innere des Shuttles. Das Gesicht von Han war zwar wie immer ausdruckslos, doch in seinen Augen blinkte die Angst. Nur Gregori schien für seine Verhältnisse gut gelaunt, als er die Checkliste für den Start durchging. Pullok hatte nämlich ihn und nicht Erik damit beauftragt, das Shuttle zu fliegen. Erik fühlte sich bemüßigt, die drei Neulinge zu beruhigen, und sagte forsch: „Der Flug zur ISS wird ein Katzensprung. Wenn Gregori das Andockmanöver gleich beim ersten Mal gelingt, sind wir in ca. 3 Stunden dort!“
„Ich muss immer an die Shuttle-Katastrophen aus dem vorigen Jahrhundert denken, und jetzt sitze ich selbst in so einem Ding“, meinte die Ärztin gepresst. „Aber, aber, das kann man doch nicht miteinander vergleichen“, gab Erik zu bedenken. „Unser Gefährt ist ein wieder verwendbarer Raumgleiter, der wie ein Flugzeug startet und landet. Wir nennen es nur aus Tradition Shuttle. Es funktioniert viel zuverlässiger, denn es besitzt keine absprengbaren Teile. Glauben Sie mir, hier sind Sie viel sicherer, als wenn Sie sich mit Ihrem Wasserstoff-Auto in den Verkehr von New York stürzen.“ Von Louis kam ein ersticktes Lachen: „Netter Vergleich, nur sitzen wir hier auf mehr flüssigem Wasserstoff, als unsere verehrte Kollegin mit ihrem Minicar in ihrem ganzen Leben verbrauchen kann.“ „Exakt 110 Tonnen“, ließ sich Han mit piepsiger Stimme vernehmen. „Schluss mit dem Gequassel!“, rief Gregori. „Wir haben grünes Licht von der Bodenstation, es geht los!“
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle gut festgeschnallt waren, startete er die Triebwerke. Ein gedämpftes Brausen drang in die Kabine und der Gleiter begann sanft zu vibrieren. Gregori blickte kurz auf Erik, der neben ihm im Copiloten-Sessel saß, und als dieser nickte, schob er den Hebel für die Raketentriebwerke leicht nach vorne. Das Ergebnis der vergleichsweise winzigen Bewegung war frappierend.
Die Triebwerke heulten auf und die Insassen des Shuttles wurden durch die rasante Beschleunigung in ihre Sitze gepresst. Die Lichter der Startbahn glitten immer schneller vorbei, wurden schließlich zu einer grellgelben Linie – und die Maschine hob ab. Sie durchstieß in einem irrwitzigen Steigflug die niedrig hängenden Wolken und verschwand aus den Augen der gaffenden Zuschauer. Die vielen Leute, die den Start des Shuttles verfolgt hatten, wollten sich schon wegen der Kürze des Schauspiels enttäuscht abwenden, als sie ein lauter Knall zusammenzucken ließ. Das Shuttle hatte die Schallmauer durchbrochen.
Im Inneren des Gleiters wurde es für die Insassen langsam ungemütlich. Nach dem Durchbrechen der Schallmauer hatte Gregori die Nase des Shuttles senkrecht nach oben gerichtet und auf vollen Schub geschaltet. Wie ein Geschoss raste der Gleiter in den Himmel, während seine Besatzung unter der Beschleunigung von 6 g ächzte. Zum Glück währte der mörderische Andruck nur einige Minuten. Den Astronauten wurde dabei der Brustkorb zusammengeschnürt und ihr Herz dröhnte in ihren Ohren wie ein Dampfhammer und vermochte dennoch ihr sirupartiges Blut kaum durch die Adern zu treiben. Dann erreichte der Gleiter die vorgesehene Geschwindigkeit, die ihn in einer Parabel zur ISS tragen würde, und Gregori schaltete die Triebwerke ab.
Die Neulinge unter Eriks Kommando seufzten erleichtert auf, um gleich darauf festzustellen, dass die plötzliche Schwerelosigkeit auch so ihre Tücken hatte. Auf die besorgte Frage Eriks: „Na, wie geht’s, sind alle wohlauf?“, entgegnete Louis stöhnend: „Der Druck ist Gott sei Dank weg, doch jetzt ist mir speiübel und ich habe das Gefühl, kopfüber zu Teufels Großmutter zu stürzen.“ Erik lachte und meinte: „Ja, die Schwerelosigkeit, simuliert im Wasserbecken, oder sie tatsächlich im freien Fall zu erleben, macht schon einen gewaltigen Unterschied. Aber tröste dich, Louis, mit der Zeit gewöhnt man sich daran und das Gefühl ständigen Fallens verschwindet allmählich.“ „Eine simple Störung unseres Gleichgewichts-Organs im Innenohr“, erklärte Julia mit müder, schleppender Stimme, „die Lymphe in den Bogengängen und die Statolithen im Innenohr funktionieren nur bei vorhandener Schwerkraft oder Beschleunigung. Unter null Gravitation leiden wir quasi unter einer verschärften Form der Seekrankheit.“ „Na toll, Ihre Erklärungen, Frau Doktor, haben mir ungemein geholfen! Mir wäre es allerdings lieber gewesen, Sie hätten mir ein Mittel gegen diese ‚Seekrankheit‘ verordnet.“ „Ich habe bereits vor dem Start ein Antiemetikum genommen und mir geht es ausgezeichnet“, meldete sich Han Li mit vergnügter Stimme. Ich dachte, das hätten Sie alle getan, sonst hätte ich Sie daran erinnert.“ Die anderen starrten Han entgeistert an, bis ihnen einfiel, der kleine Chinese war nicht nur Biologe, sondern auch Arzt, und wie es schien, ein umsichtiger dazu. Erik räusperte sich: „An Bord haben wir leider keine Antiemetika, aber auf der Raumstation sind wir gewiss damit ausgestattet. Also, habt noch etwas Geduld!“
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