„Die Evolution und die Entwicklung des Lebens auf der Erde hat mich schon immer fasziniert. In der Paläontologie, die mein bevorzugtes Hobby ist, kann man verfolgen, wie sich im Verlaufe großer Zeitabschnitte Arten entwickelt, eine mehr oder minder lange Blütezeit durchlebt haben und wieder untergegangen sind.
Dabei fällt auf, dass sie im Verlaufe ihrer Existenz versucht haben, alle Lebensräume, auch die unwirtlichsten, zu besetzen. Nehmen Sie die Quastenflosser, wenn sie trotz aller Risiken nicht an Land gekrochen wären, gäbe es bis heute keine Landtiere und also auch keine Menschen. Man fragt sich unwillkürlich, was trieb diese Tiere zu solch einer riskanten Verhaltensweise? Offenbar muss es neben dem Trieb, sich zu vermehren, noch einen weiteren mächtigen Trieb geben, der die Lebewesen zwingt, alle ihnen gebotenen Nischen zu besiedeln, und seien sie noch so lebensfeindlich. Auch wir Menschen scheinen diesen Trieb zu besitzen und daher ist es nur folgerichtig, dass wir jetzt den ersten Schritt zur Besiedlung eines fremden Planeten tun. Da haben Sie mein Motiv: Ich will dabei sein, wenn wir diesen Schritt machen, denn auch in mir ist der ‚Wandertrieb‘ mächtig.“
Verblüffung zeichnete sich auf dem Gesicht Eriks ab, denn die Ärztin hatte etwas geschildert, das er selbst nur allzu oft verspürt hatte. Sein ruheloses Leben, es hielt ihn nie lange an einem Ort, immer trieb es ihn Gott weiß wo hin. Stets hatte er es für bloße Neugierde gehalten, doch Julias Erklärung passte besser. Mit aller Macht trieb es ihn in die Ferne und nun vermochte ihn nicht einmal mehr die Erde zu halten. Es zog ihn hinaus ins Weltall! Obwohl diese unerwartete Gemeinsamkeit zwischen ihm und Julia seine Vorbehalte ihr gegenüber dämpften, war seine Skepsis, was Frauen im Weltraum betraf, noch nicht ganz erloschen. Und so hörte er sich sagen: „Wandertrieb, meinen Sie, sei der Grund für Ihr Weltraumabenteuer? Das mag eine Rolle spielen, doch gibt es dafür nicht gewichtigere Gründe? Wie wäre es mit Ruhm und Selbstbestätigung?“ Julia lächelte wehmütig und meinte: „Ruhm ist in unserer schnelllebigen Zeit etwas sehr Vergängliches, Selbstbestätigung, ja das mag eine Rolle spielen, denn wer sucht die nicht?“ „Oder Bestätigung dem Vater gegenüber“, dachte Erik flüchtig und laut sagte er: „Sie erwähnten, dass Tiere, vor allem Herdentiere, einem unbezwingbaren Wandertrieb ausgesetzt sind. Ich muss da immer an die Lemminge denken. Stimmt es, dass sie nicht einmal an den Klippen halt machen, sondern sich hinabstürzen und jämmerlich ersaufen?“ Die Ärztin lachte laut auf. „Sie vergleichen uns offenbar mit diesen Tieren. Auch uns treibt es in gefährliche Regionen, allerdings hoffe ich doch sehr, dass wir nicht blindlings in unser Verderben rennen.“ „Wer weiß das schon?“, murmelte Erik.
Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, denn er musste seine Meinung über Julia Winter revidieren. Ihre Motive bei diesem Raumabenteuer ähnelten den seinen. Wie konnte er da Julia kategorisch infrage stellen? „Was ich Ihnen noch sagen wollte“, begann er zögerlich: „Sie machen sich bei Ihrer Astronautenausbildung erstaunlich gut. Also werde ich meine Meinung Ihnen gegenüber korrigieren und Sie als Crewmitglied akzeptieren.“ Julia Winter strahlte, als habe er ihr das schönste Kompliment gemacht. „Heißt das, Sie mindern Ihre Vorbehalte, was Frauen im Weltall betrifft?“
Er musste über ihre vorsichtige Ausdrucksweise lächeln. „Ganz recht, ich mindere sie, gebe sie aber nicht völlig auf!“
Ehe sie sich über ihre bessere Beziehung zueinander noch so recht freuen konnten, wurden sie gestört. Gregori und Louis kamen vom Buffet zurück. Der Russe, der seinen Teller bis zum Rand vollgeladen hatte, nahm wortlos links neben der Ärztin Platz und widmete sich sofort seiner Mahlzeit. Louis stand mit seinem Teller etwas unschlüssig herum und blickte mit gerunzelter Stirn auf Erik. Der bemerkte, dass er den Stuhl des Brasilianers in Beschlag genommen hatte, dachte jedoch nicht daran, aufzustehen. Er wollte sehen, wie Louis es anstellen würde, seinen Kommandanten vom Stuhl zu jagen. Der Brasilianer löste das Problem auf seine unnachahmliche lockere und charmante Art. „Wenn du mir mein Besteck herüberreichst, kann ich im Stehen weiteressen“, meinte er lächelnd. Erik tat erstaunt. „Ach, ich sitze auf deinem Platz, das tut mir leid. Ich hatte nicht vor, dich von der Seite unserer schönen Astronautin zu vertreiben, bitte sehr!“ Und er erhob sich. Natürlich hätte er sich auf die andere Seite des Tisches setzen können, doch er zog es vor, in sein Quartier zu gehen. So wünschte er den drei anderen noch einen schönen Abend und verließ das Casino.
Nie und nimmer hätte er sich eingestanden, dass er nur deshalb das Fest verließ, weil er nicht mit ansehen wollte, wie Louis Julia den Hof machte. Die Situation bestätigte ja geradezu seine Vorbehalte, was Frauen in einer Mannschaft mit Männern betraf: Sie schafften es immer wieder, Zwietracht zu säen. Dass Louis versuchte, heftig mit Julia zu flirten, war ja noch verständlich, Brasilianer fanden sich von Haus aus für unwiderstehlich; dass aber der introvertierte Russe der künftigen Astronautin kaum von der Seite wich und ihr, wie ein Sklave, den schweren Raumanzug nachschleppte, befremdete Erik doch sehr. Und selbst der kleine Chinese zog die Gesellschaft der Ärztin allen anderen Crewmitgliedern vor, wenn auch aus rein beruflichen Gründen, wie er immer wieder betonte.
Als Erik in die Nacht hinaustrat, empfingen ihn eine überraschend milde Luft und ein wolkenloser Himmel. Er atmete tief durch und begann, nach bekannten Sternbildern zu suchen. Das Frühjahrs-Dreieck war bereits untergegangen, doch das Sommer-Dreieck stand noch hoch am Himmel. Sein Blick glitt die Ekliptik entlang und dann hatte er gefunden, wonach er suchte: Er betrachtete das gelbrote Pünktchen, das nahe dem Stern Antares im Sternbild Skorpion stand, mit ergriffener Ehrfurcht. Da war er: der Mars, ihr fernes Ziel! Würden sie je den Fuß auf ihn setzen? Oder war alles nur ein flüchtiger, schöner Traum? In dieser stillen, wunderbaren Nacht besiegte er alle seine Zweifel und eine nie gekannte Zuversicht erfüllte ihn mit einem Mal.
Ja, dachte er entschlossen, wir werden dich trotz aller Hindernisse erreichen, ob dir das als antiker Kriegsgott nun passt oder nicht! In dieser Nacht plagten ihn keine Albträume und er schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen.
Endlich war es so weit: Der Bau der PROMETHEUS im Erdorbit war abgeschlossen und auch die Ausbildung ihrer zukünftigen Besatzung ging ihrem Ende entgegen. Erik hatte den Zeitplan für die Marsmission von Pullok erhalten und mit seiner Mannschaft besprochen. Danach war vorgesehen, dass die fünf Astronauten Ende Dezember zur ISS fliegen würden, um sich dort 4 Wochen lang an die Schwerlosigkeit zu gewöhnen. Während dieser Zeit konnten sie die PROMETHEUS gründlich testen, sodass Ende Januar der Flug zum Mars starten konnte. Der Flug selbst würde etwa 4 Monate dauern.
Das Raumschiff sollte dabei den Planeten exakt zum Zeitpunkt seiner Opposition erreichen, also genau dann, wenn der Mars seine geringste Entfernung zur Erde aufwies. Pullok hatte die Ausbildung der Astronauten so geplant, dass sie kurz vor Weihnachten beendet war. Erik und seine Leute machten drei Kreuze und feierten, je nach Glaubensrichtung, ein ungetrübtes Christfest oder ihren gelungenen Abschluss. Erik musste zugeben, Pullok und sein Stab hatten, was die Mannschaft betraf, eine exzellente Auswahl getroffen. Insbesondere die drei Neulinge hatten sich bei der Astronauten-ausbildung bravourös geschlagen, während es für ihn und Gregori lediglich die ermüdende Wiederholung einer längst bekannten Prozedur gewesen war. Jeder der drei Weltraumneulinge vermochte nun die PROMETHEUS im Notfall allein zu steuern. Sie trugen ihre Raumanzüge wie eine zweite Haut und in simulierter Schwerelosigkeit beherrschten sie selbst die komplexesten Bewegungsabläufe. Zum Ausruhen und Feiern ließ ihnen Pullok allerdings wenig Zeit, denn schon eine Woche nach Weihnachten hatte er das Flugzeug bestellt, das sie nach Cape Canaveral bringen würde.
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