Li Xi’en, der ehemalige Rektor der Jilin-Universität in der Mandschurei, wurde nun zum ersten Schulleiter ernannt. Li war ein ehemaliger Kommilitone meines Onkels Shichang, hatte gemeinsam mit ihm in Deutschland studiert, daher wusste mein Vater, dass sie die gleichen politischen Ansichten vertraten und betrachtete ihn quasi als eine Art Bruder. Die von ihnen angestellten Lehrer waren fast alle ehemalige Hochschuldozenten, die von der Mandschurei aus nach Peking geflohenen waren. Mein Bruder, der damals die Oberstufe einer anderen Schule in Peking besuchte, bewarb sich dort, sobald Vater ihm davon berichtet hatte. Leider musste er die Aufnahmeprüfung zweimal machen, aber schließlich schaffte er es doch noch, an der neuen Schule aufgenommen zu werden.
Im Herbst 1936 verschlechterte sich die Lage in Nordchina zusehends, Vater spürte die politischen Spannungen eindeutig, wie die Vorboten eines Sturms. Die ganze Region war, so beschrieb er, als befände sie sich „in einem kleinen Haus, auf das gerade ein mächtiger Taifun zuraste, und die ersten starken Windstöße fuhren schon durch alle Räume hindurch, brausend und zischend, wie in den tiefen Schluchten des Gebirges“. Die unverhohlenen Kriegsandrohungen seitens der Japaner und die fortschreitende Infiltration durch die Kommunisten machten eine Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Peking zunehmend schwieriger. Die Stadt schien ihm als sicherer Standort für die Zhongshan-Schule täglich ungeeigneter zu werden und deren Verlegung nach Nanking die einzige Lösung zu sein. Deshalb kauften mein Vater und andere Mitbegründer der Schule in Banqiao, ungefähr zehn Kilometer südlich von Nanking entfernt, ein Grundstück und begannen dort Schulgebäude und Unterkünfte für die Lehrer zu errichten.
Nachdem die Schule umgezogen war und auch das Lehrpersonal sich halbwegs eingerichtet hatte, begannen die Bauarbeiten erst richtig. Sogar die Schüler mussten mit anpacken – den Boden ebnen, wo einmal der Sportplatz angelegt werden sollte, die Außenmauer um das Schulgelände hochziehen, und auch die Toreinfahrten aus Lehmziegeln verlegen … An der Außenseite der Schulmauer, direkt neben dem Haupteingang, brachten sie ein riesiges Schild an, welches man schon von weitem erkennen konnte. Darauf stand in acht großen Schriftzeichen das Motto der Schule, das aus der „Geschichte der Kämpfenden Reiche“ stammte:
Im Reiche Chu überlebten nur drei Familien, doch sollte es einer der ihren sein, der einst den Tyrannen des Qin-Reiches vernichten würde!
Dieser Leitspruch war mit Bedacht ausgewählt worden, und waren ihre Lebensumstände auch noch so beschwerlich, so war der Wille bei den Lehrern ebenso wie bei den Schülern ungebrochen, denn aufzugeben kam für sie keinesfalls in Betracht. Jeden Morgen während des Fahnenappells sangen sie hochmotiviert das Gründungslied ihrer Schule:
Hoch auf den Bergen das ewige Weiß, unendlich der Fluss des Schwarzen Drachen;
ein Land von solcher Schönheit, sind Hass und Leiden dennoch unvergessen.
Vertrieben und verweht in tiefstem Elend sind all die jungen Menschen.
Indes, die Drei Prinzipien des Volkes, sie weisen euch den Weg;
nehmt sie zum Ideal des Landes und tragt auch noch die schwerste Bürde.
Die Schule sei euch Heim und Zuflucht, dem Lernenden ein Hort des Wissens,
in schützender Umarmung einst am Taiye-See umfängt euch nun der Qinhuai-Fluss.
Die Schande, welche ihr erfahren habt, soll euch Charakterstärke lehren,
so aufrecht wie die Männer, geboren aus dem Volk der Chu;
kaum drei Familien brauchte es, die Macht der Qin zu stürzen.
Aus dem Norden kam ich einst und in den Norden kehre ich zurück.
Insbesondere die erste Zeit in Banqiao gestaltete sich als große Herausforderung für alle, vor allem auch, weil die meisten der Schüler wirklich noch sehr jung waren. Doch mein Vater blickte stets voller Optimismus in die Zukunft, so vergingen etwa eineinhalb Jahre, in denen sie trotz aller Bescheidenheit der Verhältnisse ein recht beständiges und sicheres Dasein voller Hoffnung führen konnten. Dann war es aber vorbei mit der Sicherheit in Nanking. Vor uns lag ein langer, strapaziöser Weg, dieses Mal sollten die Tage der Flucht wesentlich härter werden, als wir es uns vorstellen konnten. Wir befanden uns in einer verzweifelten Notlage: gejagt von den Feinden, immerzu am Rande der Erschöpfung, litten wir täglich Hunger und Kälte auf unserem Weg, der uns durchs halbe China führte, in Richtung Südwesten in die Gebirge.
11 - Zhang Dafei: Kind einer zerbrochenen Familie
Nachdem mein Bruder mit der Zhongshan-Schule von Peking nach Nanking umgesiedelt worden war, kam er jeden Samstag gegen Mittag nach Hause. Meist hatte er noch fünf oder sechs Schulkameraden im Schlepptau. Die Freunde verbrachten den Tag bei uns und fuhren nach dem Abendessen mit dem Zug nach Banqiao zurück, während mein Bruder über Nacht im Elternhaus bleiben durfte. Meine Mutter war glücklich und zufrieden in der Rolle, für einen Tag die Mutter all dieser aus der Mandschurei geflüchteten Kinder zu sein. Sie verwöhnte sie, als ob es ihre eigenen gewesen wären. Obwohl sie es nicht laut aussprach, so war sie sich doch der Tatsache nur zu bewusst, dass seit unserem Umzug in den Süden und während der acht Jahre des Widerstandskrieges jeder Schüler der Zhongshan-Schule ein Heimatloser war. Und fast alle von ihnen konnten von einem tragischen Familienschicksal erzählen, es brach einem auch jedes Mal das Herz!
Als Zhang Dafei das erste Mal bei uns war, fiel er überhaupt nicht auf. Er war wortkarg und saß einfach nur ganz still da. Auch an den Spielen der anderen schien er sich nicht beteiligen zu wollen. Als Mutter das Essen auf den Tisch stellte, bestand sie darauf, dass er neben ihr sitzen sollte. Während dieser und der folgenden Mahlzeiten kümmerte sie sich immer besonders um ihn und sorgte dafür, dass er stets einen ordentlichen Nachschlag bekam. Begonnen hatte alles damit, dass Vater meinen Bruder bat, einen Schüler namens Zhang Dafei ausfindig zu machen. Der Vater dieses Schülers war während der Anfangszeit des Marionettenstaates Mandschukuo Polizeidirektor von Shenyang gewesen. Die Japaner hatten ihn der Beihilfe zur Flucht einiger Widerstandskämpfer für schuldig befunden, woraufhin er umgehend auf einen öffentlich Marktplatz zur Hinrichtung geschleppt worden war. Dort hatte man ihn mit flüssigem Lack übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt.
Meinem Bruder gelang es nach einiger Zeit tatsächlich, den Jungen unter all den Mitschülern ausfindig zu machen. Zhang war drei Jahre älter als mein Bruder, nahm an keinerlei Schüleraktivitäten teil, außer an Basketball. Er gehörte eindeutig der Kategorie „sehr schweigsamer Typ“ an. Erst durch einen anderen Basketballspieler, Fu Baolu, ein Idol, für das damals alle Mädchen der Schule schwärmten, erfuhr mein Bruder, dass es tatsächlichen einen Mitschüler namens Zhang mit dem eben erwähnten Familienunglück gab. So konnte er ihn daraufhin ausfindig machen.
Silvester hatten die Schüler im Internat verbracht, und sie bereiteten die traditionellen Teigtaschen zu, um das neue Jahr zu feiern. Zwei Tage später kam mein Bruder nach Hause und brachte Zhang Dafei zum ersten Mal mit. Es war ein eiskalter Wintertag und es hatte bereits seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen geschneit. Wir machten ein ordentliches Feuer, damit es warm wurde im Haus, und es duftete schon herrlich aus der Küche. Nach dem Essen setzten wir uns alle gemütlich um den Kamin herum, als meine Mutter ihn fragte, unter welchen persönlichen Umständen er denn seine Heimat hatte verlassen müssen.
Nachdem die Japaner seinen Vater verbrannt hatten, erzählte er uns, mussten er und sieben weitere Mitglieder seiner Familie sofort flüchten, denn es gab keinen Zweifel, dass sie als direkte Verwandte ebenfalls hingerichtet werden würden. Also hatten sie in aller Eile das Nötigste zusammengepackt und waren bei Nacht und Nebel in alle Himmelsrichtungen davongerannt, bevor die japanischen Häscher eintrafen. Er selbst hatte einen Bruder und eine Schwester, die beide jünger waren, zu seiner Tante nach Yingkou gebracht, die sie bei sich aufnahm. Dort wurde er in einer Missionsschule angemeldet, wo er als Erstes lernte, das Vaterunser als tägliches Morgengebet zu sprechen. Mit jedem Tag begann er mehr und mehr den Sinn der Worte zu begreifen: „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, auch auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute …“ Aus den erlernten Worten wurde eine eindringliche Bitte für sich und für seine verstreute Familie. Mit der Zeit begann er, sich während des Betens wieder behütet und geliebt zu fühlen. Es fühlte sich an wie der Schutz und die Liebe eines Vaters, dessen man ihn auf so grausame Weise beraubt hatte. Und nun wurde ihm tatsächlich wieder leichter ums Herz; so fand er dann seinen Weg zu Gott und wurde schließlich Christ.
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