Claudia Jäggi
Der Mondsüchtige und die Tänzerin
Erzählungen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Claudia Jäggi Der Mondsüchtige und die Tänzerin Erzählungen Dieses ebook wurde erstellt bei
Von einem, der auszog, den Mond zu suchen Von einem, der auszog, den Mond zu suchen Er stand und drückte sich am Fenster die Nase platt. Starrte hinauf in den nachtschwarzen Himmel und wartete, bis der Mond unterging. Danach war er traurig. „Wenn ich gross bin, will ich Mondforscher werden“, schrieb er in der dritten Klasse zum Aufsatzthema. Tatsächlich besuchte er nach Abschluss des Gymnasiums die Universität, um Astrophysik zu studieren. Der Mond warf verschiedenes Licht auf sein Leben. Einmal ging seine Mutter mit ihm Schlittschuhlaufen. Er war noch klein, aber schon gross genug, um sich die Schlittschuhe stolz selber zu schnüren. Sie liefen auf dem zugefrorenen See; am Ufer stand geknicktes Schilfrohr in eisiger Starre. Als er hinfiel, verbrannte er sich die Wange am Eis. Die schmale Sichel sah bleich vom blassblauen Nachmittagshimmel auf ihn herab. Als das kalte Mondlicht die Fassaden der Häuser versilberte, lag er auf ihr in Bagdad, mit seinen Händen auf ihren grossen Brüsten. Später küsste er ihren weichen Bauch und fand an ihrem gepiercten Nabel einen Mondstein. Seither war er mondsüchtig. „Es schneit Sterne!“, dachte er im All. Die Raumkapsel näherte sich dem Mond und dessen Gravitationsfeld zog immer stärker. Er sollte jetzt erneut die Triebwerke zünden, um den Rückschub einzuleiten. Er tat es nicht. Wie ein kleiner Junge stand er und drückte seine Nase am Fenster platt und starrte hinunter auf die steinig-graue Mondoberfläche. Und wartete, bis er unterging. Und war gar nicht traurig. Die Raumfähre stürzte auf die Mondoberfläche zu. Und er seinem Schicksal aus den Händen. Immer schneller. Immer schneller. Immer schnell...!
Bahnhofstrasse Bahnhofstrasse Als ich noch kleiner war, wohnten wir an der Bahnhofstrasse. Aber nur zehn Wochen im Jahr. In kleinen Häusern auf Rädern. In denen es nach Gasofen stank, wenn es kalt war, und nach Portable-WC, wenn die Temperaturen stiegen. Für uns Kinder aber war es das Paradies, denn niemals sonst war „Draussen“ näher!... Es wohnten noch einige andere Leute an der Bahnhofstrasse. Warum übrigens sie gerade so hiess, weiss ich bis heute nicht genau. Es hat wohl etwas mit den Erwachsenen und ihrem Drang nach Wichtigkeit zu tun...- Wie gesagt, wohnte da noch manch anderer. Zum Beispiel der Mann, dem ein Pilz wuchs auf dem Bauch. Die Erwachsenen meinten, es sei der Nabel, der sich unter dem Leibchen abzeichne, herausgedrückt durch die dicken Fettschichten am Bauch. Aber die Erwachsenen hatten die Welt noch nie richtig verstanden; deswegen konnten sie auch nicht wissen, dass es in Wirklichkeit ein Steinpilz war, der sich auf dem Wanst des Mannes stolz der Sonne entgegenreckte. Dann war da noch dieser Spaniel, „Bobby“ hiess er. Gerufen wurde er allerdings ausschliesslich „Bobbeli“ (der winzige). Bobbeli durfte seinen Frauchen und Fräuleinchen nach deren Mahlzeit jeweils das Mündchen ausschlecken. Unsere Nachbarsfamilie hatte eine Tochter, die Tänzerin werden wollte. Seit sie es im TV gesehen hatte, übte sie Tag und Nacht Tango. Natürlich ohne Partner. Später habe ich erfahren, dass die dicke Frau vom dicken Mann mit dem Pilz in eine Klinik musste, weil sie plötzlich nicht mehr essen wollte. Und die Besitzer von Bobbeli hatten irgendwann irgendwie irgendwoher ganz schnell ganz viel Geld gekriegt, und mussten es anschliessend noch viel schneller wieder abliefern. Die Tango-Tänzerin von nebenan ist Europameisterin im Stabhochsprung geworden. Und ich hasse heutzutage Reihenhausromantik und überfüllte Campingplätze. Trotzdem bin ich mit meinem neuen Freund mal für einen halben Tag dahin gefahren; nur um ihm etwas von früher zu zeigen natürlich... So kann’s sein. Und so stand es im Aufsatzheft von Yvonne, allerdings etwas später.
Emily Dickinsons Standesbewusstsein Emily Dickinsons Standesbewusstsein Emily Dickinson war eine Dame von gewissem Stand, und das schon seit ihren jungen Jahren. Sie legte äusserst viel Bedacht auf Standesgemässheit und war durch und durch bürgerlich. Bobby Waterloo war, was Emily einen „Angehörigen der Unterschicht“ bezeichnet hätte. Nur schon dieser Name! Nicht Lionel, nicht Arthur oder Christophorus. Eben Bobby. Mit seinem etwas unbeholfenen, hemdsärmeligen Charme wirkte er nicht gerade sehr kultiviert. Dennoch (oder gerade deswegen) traf Amors Pfeil Emily Dickinsons Herz und liess sie – wenn auch jeweils mit einem leichten Zucken der linken Augenbraue – seinem Mannsbild erliegen. Von Heirat war aber nicht die Rede. Wie gesagt, lag Emily viel an ihren standesbezogenen Pflichten. So blieb ihre junge Leidenschaft eine heimliche, und sie lehnte Bobby Waterloos Antrag ab. Als Emily 18 Jahre alt geworden war, trat ein weiterer Heiratswilliger durchaus standesgemäss zum Antrittsbesuch und damit in ihr Leben. Er bat Emilys Vater galant um die Hand seiner einzigen Tochter. Er hiess Theophil und war durch und durch bürgerlich. Ansonsten etwas fade. Doch vermögend. Und sein Anstand war tadellos. Emily Dickinson heiratete Theophil Montgomery und bezog ein standesgemässes Anwesen im Grünen. Und obwohl der Kragen von Emilys Nachthemd aus englischer Wolle Nacht für Nacht standesgemäss bis zum Hals hinauf zugeknöpft blieb, gebar sie erstaunlicherweise drei Kinder, welche sie daraufhin durchaus standesgemäss erzog. Emily Dickinson bewahrte sich ihre Standeswürde auch noch im hohen Alter. Sie war eine elegante Dame gesetzteren Alters, immer akkurat gekleidet, immer von makellosem Benehmen – die Personifizierung der Angemessenheit. Und sie trauerte Bobby Waterloo gänzlich unstandesgemäss ihr Leben lang nach.
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