Als die chinesischen Kommunisten 1958 begannen, zwei Inseln vor Taiwan, Jinmen (Quemoy) und Matsu, massiv zu bombardieren, eilte mein Vater mit einigen Parlamentsabgeordneten an den Kriegsschauplatz. Der Befehlshaber von Jinmen, General Wang Duonian, war ein Absolvent des zehnten Jahrgangs der CMA und einer der jungen Männer, die regelmäßig bei uns zum Feuertopf-Essen eingeladen gewesen waren. Während um sie herum die Granaten einschlugen, schwärmte er meinem Vater gegenüber voller Begeisterung von Mutters heimatlichen Leckerbissen, an die er sich zeitlebens erinnern würde.
Gegen Ende des Jahres 1937, als wir uns noch auf unserem eigenen leidvollen langen Marsch von Nanking nach Chongqing befanden, trafen wir einige junge Offiziere, die ebenfalls bei uns zu Gast gewesen waren. Sie alle bemühten sich sehr um uns, soweit es ihnen möglich war, und versuchten uns das Leben etwas angenehmer zu machen. Es war ihrerseits vor allem ein Zeichen großer Dankbarkeit meiner Mutter gegenüber. Viele Jahre später, auf dem Begräbnis meiner Mutter, ließ es sich Botschafter a. D. Zhao Jinyong nicht nehmen, ihr zu Ehren eine Rede zu halten. Er erzählte von seiner Studentenzeit an der Zentralen Politischen Hochschule in Nanking und bedankte sich bei meiner Mutter für ihre Großzügigkeit und Fürsorge, denn sie hatte ihm bei jedem Besuch ein kleines Taschengeld zugesteckt, nachdem der Kontakt zu seiner eigenen Familie aufgrund des Krieges abgebrochen war.
In jenem Jahr, als wir in der Ninghai-Straße ansässig waren, kam uns mein Großvater endlich wieder einmal besuchen. Als er sah, dass seine Lieblingstochter ihre Trauer überwunden hatte und in bester Stimmung geschäftig zwischen den Blumen im vorderen Garten und den Tontöpfen im Hinterhof herumwuselte, da fiel ihm ein Stein vom Herzen und er wusste, dass er sich um sie keine Sorgen mehr machen musste. Zwei Jahre später verstarb er friedlich, ohne Bedauern und ruhigen Gewissens.
Ihren eigenen Haushalt zu führen machte Mutter wirklich glücklich! So konnte ich häufig ihr leises Summen hören, wenn sie mit irgendeiner Arbeit beschäftigt war. In der Regel gelang es mir nicht herauszuhören, welche Lieder sie gerade vor sich hin summte, doch wenn sie meine jüngste Schwester in den Armen hielt, dann sang sie mit leiser klarer Stimme, dann konnte ich jedes einzelne Wort verstehen. Es war das Lied von „Su Wu, dem Schäfer vom Baikalsee“. Die letzte Strophe sang sie mit besonders viel Gefühl: „… Aufrecht saß er dort in rauer Kälte. Die Einsamkeit am westlichen Ende jener Großen Mauer, durchbrochen nur vom Klang der Zither. Sein Herz – es ward getroffen, schubweise von der Tartaren Musik – der Schmerz wie ein Peitschenhieb.“
Diese Strophe wiederholte sie immer und immer wieder, bis meine kleine Schwester eingeschlafen war. Dann legte sie das Kind in die Wiege und saß noch eine ganze Weile allein in der sich ausbreitenden Stille.
Mehr als ein Jahrzehnt später, nach dem Sieg über Japan, fuhr meine Mutter zurück in die Heimat, wo sie die Gräber ihrer Eltern besuchte, um ihnen Respekt zu erweisen und sich zu verabschieden. Danach blieb sie noch einige Tage auf unserem Gutshof, wo sie einst zehn lange Jahre auf ihren Ehemann gewartet hatte, bevor sie hatte flüchten müssen. Und nach diesem Besuch war sie wieder auf der Flucht, nur sollte der Weg sie dieses Mal viel weiter von der Heimat wegführen als je zuvor – bis nach Taiwan. Nun, 20 Jahre danach in Mittel-Taiwan, saß sie an der Wiege meines Sohnes und sang flüsternd erneut das Lied von „Su Wu, dem Schäfer vom Baikalsee“. Ja, der gute Su Wu lebte nach all den Jahren in ihrer Vorstellung noch immer am Baikalsee, allein in jenem fremden Land und voller Wehmut. In Wirklichkeit hatte Su Wu nach 19 Jahren im Exil wieder in seine Heimat, das damalige Han-China, zurückkehren dürfen. Während der 38 Jahre, die meine Mutter auf der Insel Taiwan lebte, bis wir sie in der Nähe der Hafenstadt Danshui an einem Berghang begruben, hatte sie ihre Heimat jedoch niemals wiedergesehen.
10 - Eine ganze Nation auf der Flucht
Die Gründung der staatlich geführten Nordöstlichen Zhongshan-Oberschule war für meinen Vater die Erfüllung seiner Berufung. Als er 1932 unter Lebensgefahr in die Mandschurei zurückgekehrt war, befanden sich die Untergrundmilizen der verschiedenen Widerstandsgruppen und die Freiwilligen-Armee, die jeder für sich gegen die japanischen Aggressoren kämpften, in einer vollkommen aussichtslosen Lage. Seine Kameraden aus den Untergrundorganisationen waren der Ansicht, dass mein Vater nach Nanking gehen sollte, denn dort könne er aufgrund seiner engen Beziehungen zur Parteizentrale der KMT und seiner leitenden Position in der bereits etablierten Nordostchinesischen Gesellschaft mehr für seine Heimat und seine Landsleute tun, als es ihm in dem von Japan besetzten Gebiet jemals möglich sein würde. So machte sich mein Vater schließlich wieder auf den Weg Richtung Süden. Er unterbrach seine Reise für ein paar Wochen, als er in Peking ankam, und gründete kurzerhand die „Hilfsorganisation zur Förderung für Jugendliche aus dem Nordosten“. Diese Einrichtung wurde von freiwilligen Unterstützern und älteren Lehrern betrieben, die ebenfalls aus der Mandschurei stammten und sich nun im Exil befanden. Sie alle hatten nicht mehr unter der japanischen Herrschaft zu leben vermocht, und zugleich fühlten sie sich ihrem eigenen Kulturkreis so stark verbunden, dass es ihnen eine Herzensangelegenheit war, die jugendlichen Flüchtlinge aufzunehmen und sich um sie zu kümmern. Es waren ihrer so viele, und die meisten von ihnen hatten weder Freunde noch Verwandte vor Ort, an die sie sich hätten wenden können. Überall in der Stadt sah man mittellose Jugendliche ziellos umherwandern, ausgezehrt, oft verlumpt. Als der Winter kam, errichtete die Hilfsorganisation Zeltlager für diese Heimatlosen, verteilte Lebensmittel sowie andere notwendige Alltagsgegenstände und stellte auf diese Weise zumindest die existenzielle Grundversorgung sicher. Sie waren ja eigentlich noch Kinder, und vollkommen hilflos.
Beim großen Neujahrstreffen der Nationalregierung in Nanking lernte mein Vater 1934 den Staatssekretär des Verkehrsministeriums, Peng Xuepei (1896–1948), kennen. Er wusste, dass dieser aus dem Norden Chinas stammte, und so gelang es ihm mit ein wenig Überredungskunst, Peng für sein Vorhaben zu gewinnen. Der Staatssekretär bewilligte ihm umgehend 50.000 Silbertaler. Mit diesem Startkapital, über das er sofort verfügen konnte, machte sich mein Vater augenblicklich an die Arbeit und kontaktierte seine Freunde in Peking. Angesteckt von seiner Begeisterung begannen sie eilends mit der Organisation und suchten zuerst einmal nach geeigneten Räumlichkeiten. Nach einigem Hin und Her bewilligte die Stadtverwaltung übergangsweise einige Räumlichkeiten im Kloster des Baoguo Tempels, dem Shuntianer Verwaltungsgebäude und der ehemaligen Polizeiakademie. Somit konnte binnen kürzester Zeit die Gründung der Nordöstlichen Zhongshan-Oberschule erfolgen, die auch als „Nationale Doktor Sun Yat-Sen Oberschule“ bekannt wurde, da sie die erste staatliche Oberschule Chinas schlechthin war. Die Schule war in Unter- und Oberstufe unterteilt, die etwa 2000 Exilschüler aufnehmen konnten. Am 26. März 1934 wurde die neue Schule festlich eingeweiht, nachdem es meinem Vater gelungen war, das Bildungsministerium davon zu überzeugen, dass es die Aufgabe des Staates sei, die Finanzierung solcher Einrichtungen dauerhaft zu gewährleisten. Für ihn bedeutete dies einen immensen Erfolg, denn er war der festen Überzeugung, dass der freie Zugang zu allgemeiner Bildung eine Grundlage für den Fortbestand der Nation darstellte. Außerdem war es ihm eine Herzensangelegenheit, dass die zahllosen Jugendlichen aus seiner Heimat, die sich auf der Flucht befanden, Hilfe in ihrer Notlage erhielten und auch weiterhin zur Schule gehen konnten. Eine verlorene Generation konnte und durfte China sich nicht leisten!
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