Kurz nach Beginn der Sommerferien wurde meine Schwester geboren. Aus Sehnsucht nach unserer Heimat in der Provinz Liaoning gab Vater ihr den Namen Ningyuan, was so viel wie „Tochter von Liaoning“ bedeutet. Sie war ein gesunder, fröhlicher und nicht gerade magerer Säugling. Tagsüber war sie immer gut gelaunt, aber nachts weinte sie sehr oft, und vor allem weinte sie wirklich sehr laut. Mutter musste dann immer schnell aufstehen, sie auf den Arm nehmen und ins Nebenzimmer gehen, damit unser Vater nicht im Schlaf gestört wurde. Unser neues Kindermädchen, Frau Li, wollte gern behilflich sein und bat ihren Bekannten, ein daoistisches „Edikt des Himmelsvaters“ zu kalligrafieren, das in ihrer Heimat Fengyang in der Provinz Anhui als schnell wirkendes Wundermittel gegen unruhige oder schreiende Kleinkinder galt. Der „Zauberspruch“ lautete:
Allmächtiger Gebieter des Himmels,
Oh, Schöpfer der Erde von unendlicher Macht,
In unserem Heim ein Kindelein,
Das weinet bitterlich die ganze Nacht.
Dreimal so sprechet, oh ihr Edlen,
Ihr Passanten, dieses Wunschgebet,
Alsbald so schlafe ein, bis hell erstrahlend
die Morgensonne sich erhebt!30
Mein Bruder erhielt daraufhin von ihr die Anweisung, den Zettel mit der Kalligrafie an einen Laternenpfahl in einer belebten Straße zu kleben, als er am nächsten Morgen zur Schule ging. Neugierig, wie wir waren, und da wir jeden Tag an dem Zettel vorbeigehen mussten, versteckten wir uns natürlich jedes Mal für eine Weile in unmittelbarer Nähe und warteten voller Spannung darauf, ob wirklich jemand davor stehen bleiben und das Edikt dreimal rezitieren würde. Wir hatten ziemlich große Angst, dabei von Vater erwischt zu werden, denn wir wussten genau, dass er dann wütend werden würde. Unser Vater hatte immer betont, dass eines der Ziele, die es im Zuge seiner Arbeit für die Nationalregierung hauptsächlich zu erreichen galt, darin bestand, das Land vom weitverbreiteten Phänomen des Aberglaubens sowie obskuren Sitten und Gebräuchen zu befreien.
Ich war neun Jahre alt, als ich die Trommelturm-Grundschule in Nanking besuchte. Die Stadt war erfüllt von einem neuen Geist, denn unsere Regierung hatte inzwischen die „Bewegung für ein Neues Leben“ eingeführt, um die chinesische Gesellschaft von ihrer Rückständigkeit zu befreien und in eine zeitgemäße Zivilgesellschaft umzuwandeln. Sämtliche Schüler der Grund- und Volksschulen wurden mobilisiert, um die auf Papierstreifen gedruckten Leitsätze in der ganzen Stadt anzubringen. Quasi über Nacht schienen Nankings Straßen mit farbigen Spruchbändern geschmückt worden zu sein und von überall her sprangen einen die zahlreichen Parolen an, etwa „Spucken verboten!“ oder „Reißt euch zusammen und strebt vorwärts!“ Aus heutiger Sicht betrachtet klingen solche Aufforderungen absurd und lächerlich. Niemand würde so etwas heutzutage noch öffentlich plakatieren, aber ich erinnere mich noch gut daran, als wir nach Taiwan kamen, da erschien das Ziel, der Bevölkerung das „Auf-die-Straße-Spucken“ abzugewöhnen, noch in sehr weiter Ferne zu liegen. Auch damals noch waren Parolen wie „Sei fleißig und sparsam!“, „Finger weg vom Alkohol!“, „Glücksspiel verboten!“ und „Nieder mit dem Aberglauben“ allgegenwärtig. Und derer gab es noch viele mehr.
Zwischen 1928 und 1937 war China, mit Nanking als Hauptstadt, noch voller Hoffnung. Überall wurde gebaut und Neues errichtet, denn der Erneuerungsprozess war in vollem Gange. Für viele Menschen war diese Epoche das „Goldene Jahrzehnt“ der Moderne und ging deshalb als Glanzpunkt in die Geschichte der Republik ein. Laut offiziellem japanischem Archivmaterial, welches in späteren Jahren veröffentlicht wurde, war die gesamte japanische Militärführung der Ansicht, dass man den Krieg gegen China sofort beginnen müsse, bevor es wieder zu alter Stärke gelangt, ansonsten gäbe es keine Aussicht mehr auf einen Sieg und somit wäre das ganze Unterfangen obsolet.
8 - Löschkalk und Tod
Im Sommer 1934 wurde ich plötzlich sehr krank. Ich hatte schon seit frühester Kindheit immerzu Probleme mit den Atemwegen. In jenen Sommerferien erkrankte ich gleich zweimal lebensgefährlich an einer Lungenentzündung. Meine Eltern waren überaus besorgt und der Arzt hatte ihnen daraufhin geraten: „In ihrem Zustand ist das trockene Klima des Nordens wesentlich zuträglicher für ihre Tochter, wenn die Lungen sich wieder erholen sollen.“ Als meine Großmutter, die damals noch in Peking lebte, von meiner Krankheit und dem Rat des Arztes erfuhr, schrieb sie umgehend: „Schickt das Kind nach Peking. Sie kann hier bei mir bleiben.“ Da sie ebenfalls gesundheitlich angeschlagen war, musste sie seit einiger Zeit regelmäßig in das von deutschen Ärzten betriebene „Deutsche Hospital“ gehen, wo sie dank Vaters Beziehungen behandelt wurde.
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater und ich mit der staatlichen Jinpu-Bahn nach Peking fuhren, und ich hatte keinen blassen Schimmer, weshalb wir diese Reise unternahmen. Doch allein der Umstand, dass mein Vater mit mir zusammen reiste, machte mich überglücklich. Die Bahnfahrt dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Es war der zweite Tag und unser Zug befand sich gerade auf der langen Luokou- Eisenbahnbrücke, welche über den Gelben Fluss führt, als ich zum ersten Mal in meinem Leben im Speisewagen eine Mahlzeit einnehmen durfte. Vater hatte das Beefsteak für mich in kleine Häppchen zerlegt und zeigte mir, wie man mit Messer und Gabel umging. Alles erschien mir so aufregend, als der Zug über die endlos scheinende Stahlbrücke fuhr und das gleichmäßige Rumpeln der Räder in meinen Ohren dröhnte. Und es war auch das erste Mal in meinem Leben, dass ich meinem Vater während einer Mahlzeit gegenübersaß. Ich erinnere mich, dass sich in mir ein unglaubliches Wonnegefühl ausbreitete. Ja, in diesem Augenblick war ich einfach nur glücklich!
Nachdem ich von einem Arzt im Deutschen Hospital in Peking untersucht worden war, nahm dieser meinen Vater zur Seite und sagte: „Der Zustand ihres Kindes ist sehr ernst, und sollte die Krankheit weiter fortschreiten, dann können wir für nichts mehr garantieren. Sie werden sie sehr wahrscheinlich verlieren.“ Die beste Chance für eine Genesung sah er in der Behandlung durch Spezialisten einer Heilanstalt. Daher empfahl er meinem Vater, mich in das von Deutschen und Chinesen gemeinsam geführte Westberg-Sanatorium 20 Kilometer außerhalb von Peking zu bringen. Dort sei ich bestens aufgehoben, versprach er. Meinem Vater blieb nichts übrig, als dem Arzt zu vertrauen, obwohl es ihm gar nicht gefiel, mich irgendwo allein zu lassen. Also nahm er mich bei der Hand und fuhr mit mir zum Sanatorium am Fuße des Westbergs von Peking. Das Sanatorium wurde nach westlichem Standard geführt. Jeder Patient wurde in einem Einzelzimmer untergebracht, und so bekam auch ich ein eigenes Zimmer, obwohl ich dort das einzige Kind war. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Nacht allein verbracht und bekam schreckliche Angst. Ein ganzes Jahr lang musste ich dort bleiben, und es gab keine einzige Nacht, in der ich mich nicht fürchtete.
Lungentuberkulose war damals eine lebensbedrohliche und nur schwer zu heilende Krankheit. Täglich gab es Todesfälle im Sanatorium, und nachdem man die Leiche hinausgetragen hatte, wurde sofort im ganzen Zimmer Löschkalk ausgestreut, um alles zu desinfizieren. Zuerst verstand ich nicht, was da geschah, doch mit der Zeit kam ich dahinter, dass jedes Mal, wenn der ätzende Kalk ausgestreut wurde, jemand gestorben war. Ich war noch zu jung, um zu begreifen, was Tod tatsächlich bedeutet, dennoch überkam mich stets eine große Traurigkeit, wenn das weiße Pulver gestreut wurde – immer fing ich an zu weinen. Im Sanatorium gab es einen Küchenhelfer, der auch dafür zuständig war, den Patienten die Mahlzeiten zu bringen. Alle dort nannten ihn einfach nur den alten Wang, aber für mich war er der Tröster in der Not. Der alte Wang war mitten in seinen Dreißiger-Jahren, also noch gar nicht wirklich alt, und von stämmiger, fast rundlicher Statur. Mir gegenüber zeigte er sich immer besonders fürsorglich, da er selbst eine Tochter in meinem Alter hatte, deshalb nannte er mich gern „Töchterchen“. Jedes Mal, wenn er mich mit tränennassen Augen sah, sagte er sofort: „Nicht weinen, Töchterchen, ich koche dir gleich einen schönen Erdapfel!“ Schon als kleines Kind waren Kartoffeln meine Lieblingsspeise, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn ich mit guten Freunden zum Essen ausgehe und jemand hat eine schöne, runde gekochte Kartoffel auf seinem Teller, dann wird sie immer gleich an mich weitergereicht. So sehr ich mich über diese köstliche Gabe freue, so sehr erinnert sie mich auch jedes Mal an meine Kindheitserlebnisse im Westberg, und dann überkommt mich nach wie vor diese dustere Traurigkeit.
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