7 - Köpfe über dem Stadttor
Meine Großmutter und meine zwei Tanten waren mittlerweile schon nach Peking umgezogen. Kurz zuvor hatte mein Vater bereits einen Freund mit der Aufgabe betraut, meine Mutter, meinen Bruder und mich von Nanking aus dorthin zu begleiten, damit sie ihre Schwiegermutter, so wie es die Tradition erforderte, pietätvoll und mit dem gebührenden Respekt, „betreuen“ konnte. So zumindest ließ er es im Freundeskreis verlautbaren, doch insgeheim fungierte seine Familie als Tarnung für seine verdeckten Tätigkeiten in den nordchinesischen Gebieten, damit er ohne Misstrauen zu erregen seine Mission weiterführen konnte. Nach der vollständigen Übernahme der Mandschurei durch die Japaner hatte mein Vater sich dazu entschieden, so lange wie möglich im Nordosten zu bleiben, damit er zu möglichst vielen antijapanischen Untergrundorganisationen Kontakte knüpfen konnte. Er wollte sein Möglichstes tun, um zwischen den vielen versprengten Gruppen zu vermitteln und die Widerstandskämpfer auf diese Weise dabei zu unterstützen, möglichst schnell Herr der Lage zu werden. Viel schneller jedoch, als seine Bemühungen Fortschritte machten, erkannte er, dass Peking auch kein sonderlich sicherer Ort mehr war. Überall in der Stadt schnüffelten die Spitzel der Japaner herum und ihm fehlten die Kontakte, um unseren Schutz zu gewährleisten. Also veranlasste er, dass meine Mutter und ich in die 140 Kilometer entfernte Hafenstadt Tianjin umzogen, während mein Bruder in Peking bei Großmutter blieb. Er sorgte dafür, dass wir im französischen Konzessionsviertel der Stadt eine Bleibe zugeteilt bekamen. Von nun an gab es eine neue Rolle im Leben meiner Mutter, die sie auszufüllen hatte. Unversehens sah sie sich mit der Aufgabe konfrontiert, die vielen Familienangehörigen der Untergrundkämpfer, welche aus allen Teilen der nordöstlichen Gebiete ins unbesetzte China flohen, sowie zahlreiche Schüler und Studenten aus der Mandschurei, die schließlich in Tianjin landeten, zu betreuen. Der Dienst an ihrem Heimatland hielt sie derart auf Trab, dass sie nur noch ab und an die Zeit fand, nach Peking zu fahren und bei Großmutter nach dem Rechten zu sehen. Endlich gab es eine Rolle in ihrem Leben, das bis dahin nur die der Ehegattin, Mutter und Hausfrau gekannt hatte, die ihrem Dasein einen tieferen Sinn verlieh und welche sie von Herzen gern übernahm!
Ich kann mich noch sehr lebhaft an den Tag erinnern, als wir Besuch von einer gewissen Frau Gai und ihren zwei Kindern bekamen, deren Ehemann und Vater ein patriotischer Untergrundkämpfer in unserer Heimat war. Plötzlich hörte ich heftiges Schluchzen aus dem Wohnzimmer. Meine Mutter kam sichtlich verstört zu uns ins Schlafzimmer, wo wir Kinder spielten, und bat mich, mit den beiden Jungen draußen im Garten weiterzuspielen. Einer der Brüder fragte mich ganz unvermittelt: „Warum hängt der Kopf unseres Papas über dem Stadttor?“
Im Jahr 2001, während der Eröffnungsfeierlichkeiten der Chi Shiying Gedenkbibliothek an der Zhongshan-Oberschule in Shenyang, wurde mir ein Bildband überreicht, welcher den Titel „Vergesst niemals den 18. September“ trug. In diesem Buch fand ich ein großes Foto, dass eine Reihe von blutgetränkten Köpfen über einem alten Stadttor zeigte. Es war eine erschreckend scharfe Aufnahme, auf der man die weit aufgerissenen, hasserfüllten Augen und die gefletschten Zähne der Toten sehen konnte, so dass man noch immer die grimmige Wut, die auf ewig in den Gesichtern eingebrannt schien, beinahe am eigenen Leib zu spüren vermochte. Den Zorn über die Willkür dieses blutigen Abschieds von der geliebten Familie und den Verlust der eigenen Heimat nahmen sie mit sich, meine Kindheitserinnerungen jedoch waren mir plötzlich wieder gegenwärtig wie seit langem nicht mehr und sollten mir seither unauslöschlich vor Augen stehen.
Mit der Zeit stellte sich heraus, dass auch die ausländischen Konzessionsviertel keine absolute Sicherheit bieten konnten. Zudem war der Familienname Chi recht auffällig und weckte häufig das Interesse der Leute. Bis dahin war es nur mein Vater gewesen, der für seine zahlreichen Reisen unterschiedliche Identitäten annahm, doch plötzlich mussten auch wir von Zeit zu Zeit unseren Namen wechseln. Am häufigsten hießen wir Wang oder Xu. Jedes Mal, wenn wir unseren Nachnamen änderten, musste ich auch die Schule wechseln, damit der Schwindel nicht aufflog. Für meinen Vater gehörte das zu seinem beruflichen Alltag, und deshalb irritierte es ihn nicht im Mindesten, dass er mal mit einer Frau Wang und kurz darauf mit einer Frau Xu verheiratet war, je nachdem, wie sich Mutter gerade nannte. Für mich hingegen war es total verwirrend, und manchmal, bevor ich zur Schule ging, musste ich noch einmal nachfragen: „Mama, wie heiße ich heute?“
Eines Tages, als ich gerade mal wieder Wang Bang-Yuan hieß, besuchte ich die dritte Klasse der Liaoxikai-Grundschule in Tianjin. Meine besorgten Eltern wagten es nicht, mich in solch einer großen Stadt unbeaufsichtigt auf den Weg zur Schule zu schicken, daher heuerten sie den Fahrer eines gelben Rikscha-Taxis an, der mich jeden Tag von unserem Zuhause abholte und nach dem Unterricht auch wieder dort absetzte. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass, wenn ich in dieser Rikscha saß, manchmal ein paar der frecheren Mitschüler hinter dem Taxi herliefen und gehässig „Wangba Yuan, Wangba Yuan!“ riefen. Diese Entstellung meines vermeintlichen Namens zu „Yuan, die Schildkröte“.brachte mich derart auf die Palme, dass ich vollkommen in Tränen aufgelöst war, als ich zuhause ankam. So befremdlich es für mich als Kind auch war, dass wir dauernd unseren Namen wechselten, so war ich doch das eine Mal heilfroh, als ich bald darauf wieder Xu hieß und die Schule wechseln durfte.
In jenen Tagen, da um uns herum überall Gefahren lauerten und wir andauernd umziehen mussten, hat meine Mutter nicht mehr geweint. Sie war längst nicht mehr die schwermütige, tränenselige Frau von einst. Diese Tage voller Unsicherheit schweißten meine Eltern zusammen, und so akzeptierte sie nicht nur die schwere Bürde der Verantwortung, sondern war regelrecht glücklich, denn nun gab es endlich jemanden, mit dem sie ihren Kummer teilen konnte. Mein Vater teilte wiederum seine Sorgen mit ihr, und so fühlte sie sich endlich nicht mehr einsam. Dank ihrer selbstlosen Hingabe und ihrer liebevollen Fürsorge wuchs ich stets mit dem Gefühl auf, vollkommen sicher und behütet zu sein. Ich fühlte mich einfach geborgen und war glücklich. Viele Jahre später, kurz bevor sie im Alter von 83 Jahren verstarb, unterhielten wir uns einmal über das hart erkämpfte Recht der Frauen in der modernen Zeit, sich selbst die Partner aussuchen zu können. Ich fragte sie, ob sie sich heute, da sie jetzt die freie Wahl hätte, auch für Vater entscheiden und ihn wieder heiraten würde. Daraufhin lächelte sie mich an und schwieg. Einige Tage später antwortete sie mir dann doch noch ganz unvermittelt: „Ja, ich würde ihn wieder heiraten. Mag sein, dass er nicht der geborene Familienmensch ist, aber er ist ein Mann von Ehre. Und er war stets ein sanftmütiger und aufrichtiger Mensch.“
Als wir von Tianjin wieder nach Nanking umgezogen waren, mieteten wir zunächst ein kleines, relativ neues Haus in der Fuhou-Gang-Straße, benannt nach dem einstigen Wachturm der Kaiserin Fu. Dahinter erstreckte sich weithin Brachland bis zum Xuanwu-See. Unserem Haus gegenüber lag ein großes Grundstück, auf dem viele hochgewachsene Japanische Pagodenbäume standen. Im Frühsommer trugen diese eine Fülle von kleinen, duftenden Blüten, die wie hellgelbe Perlen aussahen, welche man auf lange Schnüre gezogen hatte. Schauten wir aus unserem Fenster, so schien es, als würden Wolken aus Perlen die imposanten Bäume umschweben. Ich liebte diese Blüten genauso wie die Pfingstrosen, denn ihr Anblick und ihr Duft lösten in mir immer sofort das größte Glücksgefühl aus, das ich kenne – das Gefühl des „Zuhauseseins“. Jeden Morgen lief ich von meinem neuen Zuhause aus, gemeinsam mit meiner Klassenkameradin Duan Yonglan und ihrem Cousin Liu Zhaotian, neben den Schienen der gerade erst fertiggestellten Südchinesischen Jiangnan-Eisenbahnlinie entlang, bis zur Trommelturm-Grundschule. Links und rechts des Weges blühten überall der Löwenzahn und viele andere bunte Wildblümchen.
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