Jeden Samstag kam meine Großmutter, die damals schon über 60 Jahre alt war, mich besuchen, und wie es traditionell in Peking noch üblich war, reiste sie in einer von zwei Männern getragenen Sänfte an. Wenn dann der Moment kam, da sie wieder nach Hause aufbrach, weinte ich bitterlich und wollte ihr hinterherlaufen. Doch es war mir strengstens untersagt, das Bett zu verlassen, und so wurde ich festgehalten. Verzweifelt rief ich ihr nach: „Ich will mit dir gehen! Bitte nimm mich mit nach Hause!“ So saß ich ins Bett gezwungen und heulte und heulte. Meine Großmutter konnte mein Heulen bis nach draußen hören, wo die Sänfte für sie bereitstand, doch so sehr sie es sich selbst auch wünschte, sie durfte mich nicht mitnehmen. Eines Tages, als es wieder Zeit war, Abschied zu nehmen, da konnte auch sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken. Und als sie zu weinen begann, da flossen ihre Tränen entlang der tiefen Falten beinahe waagerecht zur Seite. Da begriff ich plötzlich, was mit der alten chinesischen Redewendung tatsächlich gemeint war, die besagte, dass die „Tränen quer durchs Gesicht fließen“.
Im Sanatorium lernte ich eines Tages eine andere Patientin namens Zhang Caiping kennen. Sie war etwa Mitte 20, und deshalb nannte ich sie immer „Große Schwester Zhang“. Der alte Wang meinte, dass der Liebeskummer sie krank gemacht hätte. Sie zeigte großes Interesse an mir, weil sie fand, dass ich ein kluges Mädchen sei, denn ich verstand alles, was sie mir erzählte, und sie vertraute mir des Öfteren sehr persönliche Gedanken an. Ich mochte sie wirklich sehr gerne, und manchmal ließ sie mich sogar heimlich in ihr Zimmer, was eigentlich verboten war, wegen der Ansteckungsgefahr. Sie besaß eine umfangreiche Sammlung moderner Literatur aus den Dreißigerjahren und die meisten Bände waren chinesische Übersetzungen westlicher Werke. Sie erlaubte mir, ihre Bücher zu lesen, und ich verschlang diese geradezu. Am meisten faszinierte mich der von Lin Qinnan übersetzte Roman „Die Kameliendame“. Der Stil und die Sprache des Romans gefielen mir ausgesprochen gut, und so bereitete mir die Lektüre große Freude, auch wenn ich nicht immer alles ganz genau verstand, was da in den Herzen und Köpfen der Erwachsenen vorging.
Eines Nachmittags sah ich, wie jemand Kalkpulver in Schwester Zhangs Zimmer ausstreute. Mir schwante Schreckliches, doch ich mochte es mir nicht eingestehen. Ich lief zum alten Wang und fragte ihn nach dem Grund. Ich hoffte so sehr, dass es sich als Missverständnis herausstellen würde, doch er sah mich nur mit traurigen Augen an und antwortete: „Ach Töchterchen, ich geh und koch dir ein paar Erdäpfel.“ Bis heute erinnere ich mich so deutlich an diesen Moment, dass mir noch jedes einzelne Detail klar vor Augen steht. Obwohl ich noch nicht genau definieren konnte, was „Tod“ bedeutet, war mir sofort klar, dass meine Freundin tot war, und ich spürte diesen eisigen Hauch des Endgültigen. Zum ersten Mal in meinem Leben betraf mich der Tod eines Menschen ganz persönlich, denn sie hatten den Löschkalk im Zimmer meiner Freundin gestreut.
Ich war vollkommen erschüttert und zutiefst verzweifelt über den Verlust meiner Freundin. Meine Großmutter muss sehr unter meiner Dünnhäutigkeit gelitten haben, denn ich konnte tagelang nicht mehr aufhören zu weinen. Mein ganzes Leben lang habe ich sehr oft an meine geliebte Großmutter gedacht, der ich auf ewig zu Dank verpflichtet bin, denn sie war es, die von meiner Geburt an bis ins hohe Alter eine schützende Hand über mich gehalten und sich immer verlässlich um mich gekümmert hat. Irgendwann später, als wir bereits etliche Jahre auf der Flucht von Nanking nach Chongqing kreuz und quer durchs Land gezogen waren, erhielten wir nach unserer Ankunft die verspätete Nachricht von ihrem Tod. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass der Körper, der mich in bitterkalten Winternächten immer warm gehalten hatte, nun selbst erkaltet sein sollte.
Als meine Eltern in ihren Siebzigern waren, zogen sie nach Neihu (Binnensee), einem Stadtteil von Taipei. Durch seine Lage in einer Gebirgssenke waren im Laufe der Zeit natürliche Seen entstanden, welche „Binnensee“ zu einer der schönsten Wohngegenden von Taipei machten. Mit ihrem Umzug begann eine Phase, da wir uns sehr regelmäßig sahen und viel miteinander sprachen. Wir verbrachten eine überaus schöne Zeit zusammen, und vielleicht waren es sogar unsere glücklichsten gemeinsamen Tage. Niemals zuvor waren Vater und ich uns so nahe gekommen. Eines Tages begleitete er mich nach dem Abendessen zur Bushaltestelle am See. Während wir gemeinsam dort saßen und auf den Bus warteten, erzählte ich ihm von meiner Zeit im Westberg-Sanatorium und welche Nachwirkungen der dortige Aufenthalt für mich hatte. Ich war furchtsam geworden und hatte seither große Angst vor der Dunkelheit. Diese Angst begleitet mich noch bis heute. „Es war grausam von euch, mich in das Sanatorium auf diesem gottverlassenen Berg zu bringen und dort mutterseelenallein zurückzulassen.“ Vater seufzte tief und sagte: „Ach Kind, in jener Zeit wusste man einfach zu wenig über Kinderpsychologie, und ich war so viele Jahre lang bis über beide Ohren mit der Revolution beschäftigt. Wir lebten doch alle in ständiger Lebensgefahr und dachten über vieles einfach nicht mehr nach. Ich ahnte nicht einmal, dass ein Kindskopf so kompliziert sein könnte. Dein Aufenthalt im Sanatorium hat mich ein Drittel meines Monatsgehalts gekostet, und ich hoffte einfach nur, dass du wieder gesund werden würdest. Alle unsere Verwandten und Freunde meinten deshalb, dass ich ein guter Vater sei.“ So saßen wir beide eine ganze Weile schweigend nebeneinander und wussten einfach nichts mehr zu sagen. Erst das laute Brummen des Busses schreckte uns aus unseren Gedanken. Meine Worte hatten Vater sichtlich überrascht, und ich bin mir sicher, dass er sich selbst daraufhin die Frage gestellt hat: „Hätte ich damals schon davon gewusst, was hätte ich dann anders gemacht?“ Ich war mir jedoch sehr bewusst, dass es ein großes Glück für mich bedeutete, solche Eltern zu haben, die mich liebevoll aufgezogen und die sich mit allen Kräften und in jeder Minute bemüht hatten, mir auf dieser Welt ein gutes Leben zu ermöglichen!
Das Sanatorium war nicht darauf eingestellt, Kinder zu betreuen, daher gab es für mich kaum Alternativen, die Langeweile zu vertreiben. Die einzige Möglichkeit der Beschäftigung während meines einjährigen Aufenthaltes war das Lesen von Büchern. Ich las sehr, sehr viele Bücher, und mit der Zeit wurde aus einer Verlegenheitsbeschäftigung allmählich eine Art Hobby, nein mehr noch, das Lesen entwickelte sich für mich sogar zu einer Leidenschaft, der ich zeitlebens nachgehen würde. Oh ja, je mehr ich las, desto stärker schien diese unsichtbare Kraft zu werden, mit der mich Bücher wie ein Magnet anzogen. Manchmal, wenn ich an diese Zeit zurückdenke und mir auch wieder meiner tief verwurzelten Verbundenheit zum gedruckten Wort bewusst werde, dann denke ich, dass es beinahe wie eine göttliche Fügung des Schicksals war: Aus dem kurzen „Unglück“ des Aufenthaltes in diesem fürchterlichen Sanatorium wurde die Freude meines Lebens!
Ich erinnere mich noch daran, dass ich kurz nach meiner Entlassung aus dem Westberg-Sanatorium eine chinesische Ausgabe von Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seines Wesens und seiner Ursachen“ entdeckte. Ich fand dieses umfangreiche Werk im Bücherregal eines Onkels, der gerade aus dem Ausland zurückgekehrt war, und verschlang es geradezu, ohne wirklich zu begreifen, was ich da las. Dennoch bereitete mir die Lektüre große Freude und ich fühlte mich einfach unheimlich wohl dabei. Ich las so ziemlich alles, was mir zwischen die Finger kam, denn das Lesen stillte meine ungeheure Neugier auf das Leben und die Welt. Natürlich las ich auch Kinderbücher und ich liebte die Zahlenbilder, die es im Our Little Friends gab, einem christlichen Kindermagazin. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich die Zahlen mit Strichen verband und so einen kleinen Hund zeichnete. Und noch mehr Spaß machte es mir, diese Zahlenbilder dann noch mit bunten Farben auszumalen.
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