Nach einem Jahr erklärten die Ärzte mich als geheilt. Vater kam am Tag meiner Entlassung und brachte mich zurück nach Nanking. Inzwischen war meine kleine Schwester schon fast zwei Jahre alt. Auch freute ich mich sehr darüber, dass ich zunächst wieder in meine alte Schule am Trommelturm gehen sollte. Ich würde endlich meine Freunde und Mitschüler wiedersehen und wäre mit gleichaltrigen Kindern zusammen. Doch als ich zur Schule kam, bemerkte ich, dass niemand mehr mit mir spielen wollte. Nicht einmal die zierliche, bildhübsche Wanfang, die vor meiner Erkrankung meine beste Freundin und eigentlich immer sehr nett gewesen war, wollte noch in meiner Nähe sein. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie mir rundheraus: „Meine Mutter hat mir verboten, mit dir zu spielen.“ Ich wusste einfach nicht, was ich falsch gemacht hatte, und war deswegen unendlich traurig. Erst nach einer ganzen Weile kam ich dahinter, dass die Eltern einiger Mitschüler durch Zufall von meiner Tuberkulose-Erkrankung und meinem Aufenthalt im Sanatorium erfahren hatten. Da verstand ich endlich, dass sie ihren Kindern nur aus Angst vor einer Ansteckung jeglichen Kontakt mit mir verboten hatten.
Kurz darauf mussten wir erneut umziehen und ich war nicht wirklich traurig darüber. Dieses Mal zogen wir in eine neue Siedlung in der Ninghai-Straße. Ich wurde in der Shanxilu-Volksschule angemeldet, welche in unmittelbarer Nachbarschaft lag, und dort fand ich sogar recht schnell Anschluss unter den Mitschülern. Da ich von einer anderen Schule kam, bestanden meine Kontakte zumeist aus anderen Quereinsteigern und den Sitzengebliebenen, denn irgendwie gehörten wir nun alle einer Randgruppe im sozialen Gefüge dieser Schule an, deshalb fühlten wir uns von Anfang an miteinander verbunden. Da ich inzwischen sehr gute Aufsätze schreiben konnte, waren auch die Lehrer besonders freundlich zu mir, und ich bekam ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit von ihnen. Gesundheitlich ging es bei mir auch stetig bergauf und so verbrachte ich den Rest meiner Grundschulzeit bis zum Abschluss tatsächlich sehr unbeschwert und sorglos. Denke ich an dieses letzte Jahr in der Volksschule zurück, so habe ich sehr viele schöne Erinnerungen, an denen ich mich bis heute noch erfreuen kann.
9 - Mutter und ihre Landsleute
Nachdem Marschall Zhang Zuolin, auch als „Tiger der Mandschurei“ geehrt, im Juni 1928 durch ein Bombenattentat der japanischen Kwantung-Armee ums Leben gekommen war, schien das Land führerlos zu sein. Sein Sohn und Nachfolger, Zhang Xueliang, traf eine Vereinbarung mit der Nationalregierung in Nanking, worin er sein Einverständnis erklärte, am Neujahrestag des Jahres 1929 die Flagge der Republik zu hissen. Mit diesem offiziellen Akt unterstellte er die Mandschurei der Hoheitsgewalt der chinesischen Nationalregierung. Der Nordfeldzug der KMT unter Chiang Kai-Shek hatte somit sein Ziel erreicht und China war wieder eine geeinte Nation.
Im Herbst jenes Jahres fanden im ganzen Land die Aufnahmeprüfungen für den achten Jahrgang der Huangpu-Militärakademie statt, die im Anschluss an ihren Umzug von Guangzhou in die neue Hauptstadt Nanking umbenannt worden und seither „Zentrale Militärakademie“ (CMA) hieß. Die Parteizentrale der KMT bat meinen Vater um seine Mithilfe bei der Anwerbung von Kadetten aus der Mandschurei. Während eines Treffens mit Chiang Kai-Shek, der damals der Vorsitzende der Militärkommission war, unterbreitete mein Vater ihm den Vorschlag, an die hundert Kandidaten aus dem Nordosten aufzunehmen, die die erste Stufe der Ausleseprüfung bestanden hatten. So, argumentierte er, könnte die Saat der Revolution flächendeckend in der Mandschurei ausgebracht werden. Wo früher nur regionalen Interessen nachgegangen wurde, könnte auf diese Weise künftig eine neue Generation von jungen Menschen mit einem nationalen Selbstverständnis und einer zeitgemäßen militärischen Ausbildung heranwachsen, die eine stärkere und dauerhaftere Bindung an die Nationalregierung besäße. Dem Vorschlag wurde stattgegeben und mein Vater wurde von Zhang Zhizhong, dem ersten Kommandanten der Akademie, mit der Aufgabe betraut, in den folgenden vier Jahren dafür zu sorgen, dass jeweils hundert Kadetten aus der Mandschurei in die Militärakademie aufgenommen werden konnten. Nach dem Mukden-Zwischenfall 1931 stammte annähernd ein Viertel aller CMA-Kadetten aus der Mandschurei. Diese jungen Menschen, deren Heimat von den Japanern besetzt worden war, wurden nach ihrer abgeschlossenen Ausbildung in allen Bereichen des Militärs eingesetzt und sollten sich später im Krieg gegen Japan als entscheidende Kräfte an allen Fronten erweisen, da sie mit größter Entschlossenheit für China kämpften. Das bedeutete jedoch auch, dass nur wenige von ihnen nach dem Krieg ihre Heimat wiedersahen.
Neben den Offiziersanwärtern der Militärakademie erhielten jedes Jahr auch noch 20 bis 30 Absolventen von Mittelschulen in meiner Heimat einen Ausbildungsplatz an der Zentralen Polizeiakademie oder der Zentralen Politischen Hochschule in Nanking. Letztere wurde anlässlich ihrer Neugründung auf Taiwan in National Chengchi-Universität umbenannt. Während die Hochschule ihren Sitz in Nanking hatte, galt sie als „Kaderschmiede“ und erwies sich als unentbehrliche Quelle an hochrangigen Führungskräften während des Antijapanischen Kriegs und stellte auch noch in der Zeit danach einen großen Teil der Regierungselite. Diese Studenten waren auch der Grund, warum wir von der Fuhou-Gang-Straße in das größere Haus in der Ninghai-Straße umgezogen waren, denn in regelmäßigen Abständen mussten wir etliche von ihnen für eine Weile bei uns zu Hause aufnehmen, bis sie eine eigene Bleibe gefunden hatten. Unser neues Heim war ein beigefarbener Neubau mit zwei Etagen und einem großen Garten. Meine Mutter legte dort einige Etagenbeete an, die sie mit allen erdenklichen Blumen und Gräsern bepflanzte. Es sah wunderschön aus. Das Schlafzimmer unserer Eltern lag im oberen Stockwerk, und von ihrem Fenster aus, welches nach Osten ging, konnten wir den Purpur-Berg sehen, die höchste Erhebung im Umland von Nanking. Am Nordhang des Berges lag das Grabmal von Doktor Sun Yat-Sen, dem Begründer des modernen China. Je nach Art und Farbe der Wolken über dem Purpurnen Berg konnten wir das Wetter mit ziemlicher Genauigkeit voraussagen. Ein weiterer Grund für unseren Umzug in das größere Haus lag darin, dass mein Vater häufig Gäste zu sich nach Hause einlud, und ebenso häufig übernachteten diese dann auch bei uns. Ausschlaggebend war jedoch die erneute Schwangerschaft meiner Mutter gewesen. Für mich war das der schönste Grund: Die Geburt meiner zweiten, der jüngsten Schwester Xingyuan. Für meine Mutter zählten diese Jahre zu den schönsten in ihrem Leben, denn nun war sie schließlich, nach mehr als einem Dutzend Ehejahren, doch noch selbst zur Herrin des eigenen Hauses geworden.
Jedes Wochenende luden meine Eltern grüppchenweise Studenten aus der Heimat zu uns nach Hause ein. Es zählte zu den Aufgaben meines Vaters, sich um die jungen Leute zu kümmern, die nun so weit weg von zu Hause in Nanking lebten. Mutter liebte es, ihre Landsleute mit all den köstlichen Mehlspeisen zu bewirten, die sie nach traditionell nordchinesischer Art anfertigte. Sie genoss es ganz unverhohlen, sich von diesem allgemeinen Gefühl der Nostalgie tragen zu lassen, denn es half ihr, die eigene Sehnsucht nach der Heimat für eine Weile zu stillen, und jeder dieser jungen Gäste war für sie wie ein Teil der Familie. Wie gern lauschte sie auch nach dem Essen den unterschiedlichen Erzählungen aus der Heimat, die von den Jahreszeiten in der Mandschurei, den Familien unserer Gäste und der mühseligen Arbeit auf den fruchtbaren Feldern handelten.
Nachdem wir in die Ninghai-Straße umgezogen waren, entdeckte Mutter, dass unser geräumiger Hinterhof auch tagsüber schattig und kühl war. Dort, wo es am kältesten war, stellte sie Tongefäße in allen möglichen Größen auf und begann, in großen Mengen gegorenen Chinakohl herzustellen. Von Bekannten ließ sie sich auch einen großen kupfernen Feuertopf aus Peking mitbringen. In den Jahren vor dem Ausbruch des Sino-Japanischen Krieges hat der Feuertopf mit Bauchfleisch und Sauerkohl der Familie Chi mehr heimwehkranke Herzen aus dem Nordosten Chinas erwärmt, als ich zu zählen vermochte! Meine Mutter war der Ansicht, dass Sojabohnenpaste aus der Mandschurei eine Delikatesse und die beste überhaupt sei. Um sie herzustellen, musste man die Bohnen jedoch verschimmeln lassen, und das war wirklich kein schöner Anblick. „Was ist denn das für gammeliges Zeug?“, fragte eines Tages Vater meine Mutter. „Das wird die beste Sojabohnenpaste der Welt“, antwortete Mutter voller Stolz, „und ich mache sie ja hier im Hof, wo es niemand sehen kann.“ Vater mochte es überhaupt nicht leiden und verbot daher, dass in seinem Haus so etwas Ekelhaftes hergestellt würde. Mutter wiederum wollte es sich nicht gefallen lassen, dass man ihr als Herrin über Haus und Herd dazwischenfunkte, doch sie ließ ihn einfach reden. Als am darauffolgenden Wochenende wieder eine Gruppe von Kadetten zu Besuch kam, servierte Mutter ihnen Zwerggurken mit Bohnenpaste und dazu noch Feuertopf mit Bauchfleisch und Sauerkohl. Während die jungen Männer beim Essen saßen, bekamen einige von ihnen regelrecht feuchte Augen und seufzten wehmütig. Und plötzlich bekamen wir alle eine so große Sehnsucht nach der Heimat. Heimat, ja das war ein Ort, an den diese jungen Männer nicht mehr zurückkehren konnten. Was konnte mein Vater da noch gegen ein paar schimmlige Bohnen sagen?
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