1 ...7 8 9 11 12 13 ...37 Im Laufe dieser zwei Jahre ging mein Vater in seiner Freizeit oft über die Alte Brücke, und von dort aus spazierte er am Ufer des Neckars entlang. Es war wohl die schönste Zeit seines Lebens. Im Frühling erinnerten ihn die reißenden Fluten des dahinwirbelnden Stromes an den Liao-Fluss seiner Heimat, wenn dessen trübe Wogen während der Schneeschmelze tosend dahinschossen. Dabei dachte er oft über seine zukünftigen Pläne nach und die notwendigen Reformen für seine Heimat, für China. Ja, er spürte die stürmischen Wellen auch in seinem eigenen Blut. Manchmal fühlte er sich wieder wie einst, als fünfjährige Junge, der gerade ein Paar neue Stoffschuhe bekommen hatte und vor lauter Freude ganz aufgeregt um seine Mutter herumhüpfte, damals am Ufer des Liao. Zunehmend fühlte er einen Trieb in seinem Innersten erstarken, und irgendwann hörte er deutlich den Ruf seines Herzens: „Geh zurück in dein Land und bring den Menschen Bildung!“ Ja, das war es, was er wollte. Endlich hatte er seine Bestimmung erkannt, und so leistete er vor sich selbst den feierlichen Eid: „So soll es sein. Dir, meiner schönen und unendlich weiten Heimat, werde ich eines Tages deine Güte reichlich vergelten. Ich werde mich mit ganzem Herzen dem Lernen widmen, damit ich mit all dem Wissen und Können, welches du mir zu erwerben erst möglich gemacht hast, zu dir zurückkommen kann. Dann werde ich eine Schule gründen und mich der Bildung unseres Volkes widmen, basierend auf vernunftgeleitetem Denken und mittels höchst rationaler Lehr-Methoden.“
Einer der härtesten Schicksalsschläge traf ihn, als sein Vetter Shichang in Freiburg an einer Tuberkulose-Infektion starb. Abgesehen von seinem persönlichen Verlust, welcher ihn zutiefst schmerzte, sah er auch seine Zukunftspläne gefährdet, weshalb er sich dazu entschloss, der Familie den Tod des Vetters vorerst zu verschweigen. Eine Zeitlang gelang ihm dies, doch dann starb ganz unvermittelt auch Shichangs Vater. Shichang musste nach Hause, das erwartete seine trauernde Familie. Meinem Vater fiel keine triftige Ausrede ein, mit der sich erklären ließ, warum der in der Ferne weilende Sohn nicht umgehend zur feierlichen Beisetzung seines Vaters eilen konnte. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als mit den sterblichen Überresten Shichangs in einer Urne heimzukehren. Als er in Shenyang ankam, kam auch die Wahrheit ans Licht, so dass Großvater ihm die Erlaubnis verweigerte, wieder ins Ausland zu gehen. Vater war damals 25 Jahre alt. Sein Streben nach höherem Wissen und somit auch sein Lebenstraum kamen zu einem jähen Ende. Nach Beerdigung seines Vetters ging mein Vater wieder nach Shenyang, um herauszufinden, ob es dort noch andere Möglichkeiten zur Fortsetzung seiner Studien gab. In der damaligen Zeit war die Heimkehr eines Stipendiaten aus Deutschland eine absolute Sensation. General Guo Songling27, der Jahrgangskamerad seines Vaters von der Offiziersschule und zugleich auch dessen guter Freund, lud ihn ein, bei ihm zu Hause zu übernachten, da er das Hotel für eher unbequem hielt.
In dieser nördlichen Region herrschte im Januar eine strenge Eiseskälte und die Nächte waren lang, womit sie sich hervorragend für gemütliche Gespräche am Kamin eigneten. Sie sprachen über alles, von lokalen Ereignissen über nationale Angelegenheiten bis hin zur politischen Lage der Welt, und als sie sich verabschiedeten, hatte jeder von ihnen das Gefühl, dass aus dieser Begegnung eine Freundschaft entstehen könnte. Daraufhin wurde Vater gebeten, noch eine Weile zu bleiben, und jedes Mal, wenn General Guo wichtigen Besuch empfing, wurde mein Vater eingeladen, sich der Gesprächsrunde anzuschließen. Seine Erzählungen über Japan und Deutschland stießen bei den Gästen auf großes Interesse, und auch seine Ansichten zur Lage im eigenen Land, welche er als Auslandsstudent durch den räumlichen Abstand gewonnen hatte, wurden mit Aufmerksamkeit verfolgt. Vor allem jedoch beeindruckte er seine Zuhörer mit Schilderungen, welche die Entwicklungen in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg zum Inhalt hatten. Nach dem verlorenen Krieg war Deutschland wirtschaftlich am Boden und die Bevölkerung musste viel Not und Leid erdulden. Was jedoch nicht hatte besiegt werden können, waren der Nationalstolz und die unverbrüchliche Überzeugung des Volkes, diese schwierigen Zeiten bald überwunden zu haben. Und tatsächlich hatten die Deutschen es geschafft. In ihren alten Häusern mit ihren dicken Mauern, welche auf steinernen Fundamenten standen, ebenso wie in den mächtigen Säulen, die noch immer trotzig emporstrebten, und in den knorrigen alten Bäumen, welche die gepflasterten Alleen säumten, konnte man diese Standfestigkeit spüren, deren Stärke in den Tiefen ihrer Kultur verwurzelt lag. In jenen langen Winternächten diskutierten sie auch die bedrohliche Situation der Mandschurei, die damals sowohl für Japan als auch für Russland ein Objekt ihrer Gier nach Expansion war. Was machte es da noch für einen Sinn, in die Bürgerkriege zwischen den chinesischen Kriegsfürsten verwickelt zu bleiben? War es nicht höchste Zeit, das Volk von Einfältigkeit und Fremdbestimmung zu befreien? Immer häufiger diskutierten sie über die Notwendigkeit, den Menschen eine umfassende Bildung und eine Erziehung im Geiste der Aufklärung zu ermöglichen, damit sie endlich diesem Dilemma entkommen konnten. Zu jenem Zeitpunkt war sich mein Vater noch nicht bewusst, dass diese Gespräche, welche bei ihm und den anderen einen starken Widerwillen gegen das Bestehende förderten und den Drang zu Reformen weckten, seinem Leben eine schicksalhafte Wendung geben würden.
Seit Jahrhunderten hatte das sagenumwobene Volk des Nordostens den Ruf, unzählige Helden hervorgebracht zu haben, furchtlose Bogenschützen zu Pferde und begnadete Kämpfer im Gelände, wenn es darum ging, ihr Land zu verteidigen und seine Stärke auszubauen. 1883, im neunten Regierungsjahr des Guangxu-Kaisers der Späten Qingdynastie, wurde General Guo Songling in dem kleinen Dorf Yuqiaozhai in Liaoning geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, und erst im Alter von 15 Jahren wurde es ihm ermöglicht, einige Jahre lang eine altmodische Privatschule zu besuchen. Anschließend ging er auf die Offiziersschule der Fengtian-Armee. Nach bestandener Abschlussprüfung und Ernennung zum Leutnant marschierte er mit seiner Truppe unter dem Kommando von General Zhu Qinglan (1874–1941) nach Sichuan, wo sie sich dem Tongmenghui-Bund anschlossen. Diese 1905 von Doktor Sun Yat-Sen gegründete Geheimgesellschaft hatte es sich zum Ziel gemacht, eine revolutionäre Allianz zu bilden, welche die korrupte mandschurische Herrschaft stürzen sollte, um dann eine neue chinesische Republik auszurufen. Mit 33 Jahren absolvierte Guo schließlich die Führungsakademie des Heeres und wurde auf Empfehlung von General Zhu, der inzwischen zum Gouverneur der Provinz Kanton ernannt worden war, zum Kommandeur des Gardebataillons befördert. Zeitgleich wurde er als Lehrer und Ausbilder an die Shaoguan Militärakademie für Offiziersanwärter berufen, eine Institution der „Verfassungsschützenden Militärregierung“ unter Vorsitz von Doktor Sun Yat-Sen, deren Zweck die Vorbereitung von Streitkräften auf militärische Konflikte mit der Pekinger Regierung war. Dank seines umfassenden Wissens und dem Weitblick seiner Ideen gewann er schnell das Vertrauen der jungen Offiziere. Allein Fachwissen zu vermitteln reichte ihm jedoch nicht aus. Für ihn war es von großer Wichtigkeit, dass seine Schüler sich zu Patrioten mit demokratischer Gesinnung entwickelten.
Nach der Revolution von 1911 herrschten in China chaotische Zustände. Aufgrund seiner häufigen Versetzungen vom Norden bis weit in den Süden des Landes hatte er das große Durcheinander, welches überall herrschte, die Tumulte und unfassbares Elend mit eigenen Augen sehen können. Mit diesen Erfahrungen und seinem Blick fürs Ganze kehrte er schließlich wieder in die Mandschurei zurück, wo er den Posten eines Dozenten für militärische Strategien an der neu errichteten Nordostchinesischen Militärakademie antrat. Es war kein Zufall, dass einer der jungen Offiziersanwärter, der bei ihm die Schulbank drückte, Zhang Xueliang hieß, und trotz seiner Jugend bereits eine führende Position durch seinen Vater in der Fengtian-Armee bekleidete. Der älteste Sohn des Marschalls Zhang Zuolin war ein äußerst zielstrebiger Schüler, der seinen Lehrer geradezu vergötterte. Eines Tages bat er Guo um Hilfe, denn er wollte die Mandschu-Armee reformieren und eine neue, moderne Truppe zusammenstellen. Dies sollte der Beginn einer engen kameradschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden werden. Guo trat daraufhin der Fengtian-Armee bei und wurde vorerst zum Stellvertreter seines Schülers ernannt. Später übernahm er dann ein eigenes Truppenkommando. Seine herausragenden militärischen Erfolge während der zwei großen Schlachten von 1922 und 1924 zwischen Fengtian-Armee und den Verbänden der Nordchinesischen Kriegsfürsten waren das Ergebnis seiner geschickt kalkulierten Taktiken und der ausgezeichneten Ausbildung seiner Truppen. Trotzdem machte Guo sich Gedanken über den Sinn des Krieges: Lohnte es sich überhaupt, ganz China in einen Krieg zu verwickeln? Während die jungen Männer hinter der Großen Mauer kämpften, verdorrten in der Heimat die Felder, da es nicht mehr genügend Arbeitskräfte gab, um sie zu bestellen. All diese Soldaten, die auf feindlichem Gebiet verwundet wurden oder starben, ließen daheim Frauen und Kinder, denen ein schweres Schicksal gewiss war, schutzlos zurück. Er kam zu der Schlussfolgerung: Keine Kriege mehr! Was die Menschen wirklich brauchten waren Frieden, Nahrung und Bildung!
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