Nach seinem Studium in Japan ging mein Vater direkt nach Deutschland. Alle seine Briefe und die darin enthaltenen Fotos waren an meine Großeltern adressiert. Sie begannen allesamt mit „Hochverehrte liebste Eltern“ und lediglich am Schluss eines Briefes schrieb er gewöhnlich „Grüße auch an Yuzhen“. Vielleicht lag es daran, dass Männer sich in jener Zeit noch genierten oder er sich aufgrund seiner bedeutenden Position als erstgeborener Sohn des Hauses nicht die Blöße zu geben wagte, persönliche Gefühle für seine Frau in einem Familienbrief, wobei das Familienoberhaupt der Adressant war, zu zeigen. Ganz zu schweigen von einem privaten Brief an seine Frau als deutliches Liebeszeichen. Und so beschritten meine Eltern, obwohl sie im gleichen Alter waren, vollkommen verschiedene Lebenswege. Während mein Vater sich in der weiten Welt mit Büchern, neuen Ideen und gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigte, blieb meine Mutter daheim und kümmerte sich tagein tagaus um die nicht enden wollenden Aufgaben im Haushalt und auf dem Gehöft. Auf ihrer Liste stand: Täglich drei Mahlzeiten kochen, danach Geschirr und Töpfe abwaschen. Sand und Staub wegfegen, die ohne Unterlass von den unendlichen Weiten hinter der Großen Mauer herüberwehten. Zwischendurch nach dem Wohlbefinden der Schwiegereltern erkundigen und alle Wünsche erfüllen. Dazu noch das Polieren auf Hochglanz der rituellen Gegenstände für das Frühlingsfest sowie die Vorbereitung der zahlreichen Familienfeste und Feiertage im Allgemeinen. Jedes Jahr im Oktober musste sie dafür Sorge tragen, dass die Knechte und Mägde rechtzeitig den Chinakohl und die großen Rettichwurzeln im Keller als Wintervorrat einlagerten. Dann wurde ihr erst bewusst, dass sich ein weiteres Jahr bereits dem Ende zuneigte. Die Wege dieser zwei Menschen entfernten sich immer weiter voneinander und meine Mutter vermochte sich schon längst nicht mehr vorzustellen, welche Kreise das Leben ihres Mannes zog und wie es in seiner Welt aussah. Ihr Leben und Erleben konnten unterschiedlicher nicht sein, und selbst wenn sie den Wunsch verspürt hätten, die starke Zuneigung, welche sie füreinander empfanden, dem jeweils anderen mitzuteilen, so gab es doch keine gemeinsame Sprache mehr, um dies noch zu tun.
Den wichtigsten Rückhalt in ihrem von Einsamkeit geprägten Dasein erhielt meine Mutter durch die Ankunft meines älteren Bruders und meine Geburt. Wir Kinder erschienen ihr wie Geschenke des Himmels, wie ein Unterpfand der Treue und der Liebe, somit in gewisser Weise auch wie ein Abbild ihres abwesenden Ehemannes. Mein Bruder Zhenyi, dessen Name Aufschwung und Dauerhaftigkeit bedeutet, war im Frühling zur Welt gekommen, nachdem Vater in den Sommerferien zuvor nach Hause gekommen war. Zwei Jahre später zur selben Jahreszeit wurde ich geboren. Wieder drei Jahre vergingen, da erblickte Bruder Zhendao, was so viel wie Aufschwung des natürlichen Weges bedeutet, das Licht dieser Welt. Die für damalige Verhältnisse kleine Familie Chi besaß keine große Nachkommenschaft, umso bedeutender für sie und vor allem für meine Eltern war die Geburt und das gesunde Aufwachsen von uns Kindern. Insbesondere in Zeiten, da die medizinische Versorgung noch sehr rückständig war, und dementsprechend hoch fiel auch die Sterberate bei Kleinkindern aus. Mein jüngerer Bruder war erst drei Jahre alt, als er sich eines Tages beim Herumtollen im Haus versehentlich mit den Händen auf dem beheizten Ofen abstützte und sich dabei schwere Verbrennungen zuzog. Er wurde zur ärztlichen Behandlung nach Shengyang geschickt, wo er bei meiner Tante untergebracht wurde. Während seines Aufenthaltes dort steckte er sich bei seiner Kusine mit einer Hirnhautentzündung an und starb zwei Wochen später an den Folgen der Infektion.
Meine Mutter konnte den Tod ihres jüngsten Sohnes nicht verwinden. Sie machte sich schwere Vorwürfe, weinte unaufhörlich und versank tief traumatisiert zusehends in einem Zustand der Verwirrung. Die traditionelle Gesellschaft betrachtete es als unheilvolles Omen, wenn eine junge Schwiegertochter schwermütig wurde und ständig „ohne nennenswerten Grund“ in Tränen ausbrach. Mutter war sich dessen nur allzu bewusst, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als sich so lange zusammenzureißen, bis sie das Abendessen serviert hatte, und erst dann lief sie aus dem Haus, tief hinein ins meterhohe Weidegras, wo sie endlich ihrer tiefen Trauer freien Lauf lassen konnte. Tag um Tag, Woche für Woche hockte sie dort nach Sonnenuntergang im Verborgenen und weinte. Während all dieser Monate, da das zarte Grün im Frühling nach der Schneeschmelze zu sprießen begann, bis zu dem Zeitpunkt, da es zu einem faden Grau verblasst war und wieder unter einer dichten Schneedecke versank, bot ihr das Dickicht aus mannshohem Weidegras am hinteren Ende unseres Gartens eine Zuflucht, wo sie ihrer tagsüber unterdrückten Trauer endlich mit gedämpften Schluchzern Luft machen konnte. Als der Frühling zurückkehrte und der Schnee endlich wieder geschmolzen war, nahm meine Mutter mich mit zum nahegelegenen Familiengrab. Dort angekommen warf sie sich auf den kleinen Erdhaufen, welcher die letzte Ruhestätte meines kleinen Bruders markierte, und weinte bitterlich. Ich kann mich noch erinnern, dass um den kleinen Friedhof herum Fichten wuchsen, welche wild im Frühlingswind tanzten. Überall auf den Gräbern blühten langstielige rosarote Blumen. Die üppige Fülle dieser zarten, beinahe transparenten Blütenblätter im Kontrast mit den viel zu dünnen Stängeln erschienen mir wie eine zierliche und edle Schönheit, die ihresgleichen weit und breit nicht zu finden vermochte. Sie waren so gänzlich anders als die mir bekannten Wildblumen, die überall bei uns in der Gegend wuchsen. Begleitet vom leisen, schmerzerfüllten Weinen meiner Mutter pflückte ich geschäftig eine große Anzahl dieser herrlichen Blumen. Auf dem Weg nach Hause trug ich dann voller Stolz den riesigen Blumenstrauß vor mir her. Großmutter freute sich sehr über die wunderschönen Blumen, als wir nach Hause kamen, und erklärte mir, dass es Pfingstrosen seien. Seither verbinde ich mit Pfingstrosen das unermesslich, unvergänglich Schöne und die ewige Trauer zugleich. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, klingen in meinen Ohren das leise Schluchzen meiner Mutter und die Leiden jener Frauen einer vergangenen Epoche.
Seit jenem Besuch am Familiengrab saß meine Mutter häufig apathisch auf der Bettkante. Ihr starrer Blick auf das Fenster gerichtet ging in eine ferne Leere. Selbst Großmutters Rufe konnten sie manchmal nicht wachrütteln. Nach dem Qingming-Fest im April, dem Gedenktag für die Verstorbenen, an dem ihre Grabstätten gefegt werden, kam die Schneeschmelze und die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf. Überall schoss das zarte Grün der Pflanzen aus der Erde empor, und dann zeigte sich unter ihnen auch wieder eine besondere Seltenheit: die Gänsedistel, die einen frischen und leicht bitteren Geschmack hat. Die Frauen unseres Dorfes sammelten sie am gegenüberliegenden Ufer des Flusses und ich ging natürlich sehr gern mit. Als wir das Brachland erreichten, erschienen am Himmel immer wieder Scharen von Wildgänsen, welche in typischer V-Formation aus dem Süden heimkehrten, und wir konnten deutlich ihre Schreie hören, rau und klagend. Meine Mutter richtete sich zwischendurch immer wieder auf und schaute ihnen lange Zeit unbewegt nach. Sie kehrte erst heim, nachdem alle anderen schon längst gegangen waren.
4 - Abschied von der Heimat
Eines Morgens kam mein Großvater mütterlicherseits unangekündigt auf einen Besuch vorbei. Jemand hatte ihm erzählt, seine Tochter Yuzhen sei mittlerweile derart verstört, dass sie beim Kochen die Hand mit dem Brennholz zu weit in den glühenden Ofen gesteckt habe, ohne dabei irgendwelche Schmerzen zu spüren. Auch solle sie sich bereits seit einiger Zeit in diesem Zustand von Geistesabwesenheit befinden, erklärte er meinen Großeltern väterlicherseits, weshalb er sich große Sorgen um seine Tochter mache. Außerdem sei ihm noch zu Ohren gekommen, dass mein Vater derzeit in Nanking mit den sogenannten fortschrittlich-modernen Studentinnen und Studenten in einer Wohngemeinschaft zusammenlebe, und das könne er keinesfalls gutheißen. Schließlich willigten meine Großeltern ein, dass er meine Mutter und uns zwei Kinder zu meinem Vater nach Nanking bringen dürfe, damit wir künftig mit meinem Vater leben konnten. Großvater musste ihnen jedoch versichern, dass er uns wieder nach Hause mitnehmen würde, falls mein Vater uns nicht aufnehmen wollte.
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