Meine Großmutter, Zhang Congzhou, entstammte dem Mandschu-Volk. Sie war 19 Jahre alt, als sie mit Großvater verheiratet wurde und fortan zur Chi-Familie gehörte. Sie gebar ihm einen Sohn und zwei Töchter. Während der ersten Jahre ihrer Ehe, als Großvater noch ein Truppenoffizier unteren Ranges war und häufig versetzt wurde, begleitete sie ihn überall dorthin, wo man ihn hinschickte. Später jedoch, als jemand benötigt wurde, der unseren weitläufigen Familienbesitz bewirtschaftete und verwaltete, kehrte sie zurück ins Dorf und wurde sesshaft. Sie und meine Mutter, zwei einsame Frauen, mussten sich fortan um uns drei kleine Kinder kümmern. Mit Hilfe von zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern brachten sie im Frühjahr die Saat aus und fuhren im Herbst die Ernte ein. Für uns Kinder war es eine wunderschöne Zeit. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder rannte ich die Hügel hinauf bis zum Westberg, wo wir ausgelassen herumhüpften oder Gottheil pflückten. In den verwilderten Ecken unseres weitläufigen Hinterhofes suchten wir gern nach Brombeeren und sammelten wild wachsende Zwerggurken. Und im Winter gehörte es zu unserer Lieblingsbeschäftigung, auf dem vereisten Flüsschen herum zu laufen. All diese schönen Kindheitsereignisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung!
Großmutter war eine würdevolle, vornehme und zugleich großherzige, wohlwollende Frau. Sie mochte ihre Schwiegertochter sehr und hatte großes Mitgefühl mit ihr – der Frau ihres einzigen Sohnes, meiner Mutter. Doch auch sie selbst war von einer Schwiegertochter zur Hausherrin geworden, und deshalb wusste sie nur zu gut um die zwingende Notwendigkeit einer strengstens eingehaltenen Hausordnung. Auch wenn sie meine Mutter stets mit Güte behandelte und ihr niemals Steine in den Weg legte, so waren und blieben Regeln eben Regeln! Jedoch an diese erinnerte meine Großmutter stets mit sanfter Stimme. Obwohl wir eine große Dienerschaft besaßen, war es die Aufgabe der Schwiegertochter, der Mutter ihres Gatten das Essen stehend zu servieren und in respektvollem Abstand bei Tisch zu warten, bis diese ihre Mahlzeit beendet hatte. „So gehört es sich für eine Familie gehobenen Standes“, meinte Großmutter. Für mich hegte sie eine besonders herzliche Zuneigung, war sie es doch gewesen, die mir das Leben gerettet hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass sie, als ich etliche Jahre später ins Xishan-Sanatorium in Peking eingeliefert werden musste, so bitterlich um mich weinte.
Die Heimkehr des Großvaters war immer ein riesiges Ereignis. In jenen Tagen war er bereits ein mächtiger Offizier, daher standen vor unserem Haustor immer vier Soldaten mit Mauser Pistolen auf Wachposten.In Bezug auf Garderobe und Tischmanieren stellte Großvater hohe Ansprüche. Wenn es ihm nicht passte, explodierte er gleich. Die ganze Familie hielt so lange den Atem an, bis er wieder fort war. Mein Vater behauptete, Großvater sei durchaus offen für modernes Gedankengut gewesen, aber da er eine Person von solch großer Autorität war, habe es einfach niemand gewagt, mit ihm zu diskutieren.
Eines Tages, kurz nach meiner Geburt, kam Großvater nach Hause. Er blickte nur flüchtig auf den in Decken gehüllten Säugling, der auf den warmen Kang gebettet lag. Dann nahm er mit bedeutungsschwangerem Gebaren im Hauptsaal Platz und verlangte: „Bringt mir mal dieses Kätzchenmädel, damit ich es auch richtig sehen kann!“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erweckte dieser Winzling, der kaum 2500 Gramm wog und es nicht einmal wert war, getragen zu werden, seinen Beschützerinstinkt. Er befahl daraufhin kurz und bündig: „Niemand darf meiner Enkelin etwas zu Leide tun! Das ist mein letztes Wort!“ Dieser Befehl galt insbesondere meinem älteren Bruder, seinem erstgeborenen und recht stämmigen Enkelsohn. Obwohl wir in einem Zeitalter lebten, da Jungen mehr zählten als Mädchen, so waren die Chis doch eine recht kleine Familie, und deshalb wurde jedes Kind als Schatz betrachtet. Durch Großvaters „militärischen Befehl“ war mein Stellenwert in der Familie deutlich gestiegen.
Während seiner Zeit beim Militär erhielt Großvater zum 40. Geburtstag ein hübsches Geschenk: eine zierliche und anmutige Konkubine im Alter von 20 Jahren. Jedes Mal, wenn seine Truppe versetzt wurde oder er in den Krieg zog, schickte er sie zu uns nach Hause, wo sie von Großmutter mit Freundlichkeit und Fürsorge aufgenommen wurde. Nur wenige Jahre später verstarb die junge Frau an den Folgen einer Tuberkulose und hinterließ einen Sohn, Chi Shihao. Kleiner Onkel Shihao war in meinem Alter, und so spielten wir als Kinder recht häufig miteinander. Mein großer Bruder und meine Vettern liebten es, ihn an der Nase herumzuführen. Und auch mir spielten sie gern Streiche, das machte ihnen einfach einen Heidenspaß. Kleiner Onkel hatte trotzdem das Glück, unter der schützenden Hand meiner Großmutter aufzuwachsen, denn sie erzog ihn stets mit viel Liebe. Nachdem die Japaner Nordchina besetzt hatten, wurde er als Absolvent der Mittelschule umgehend zum Wehrdienst in einer der Hilfstruppen für die japanische Armee eingezogen. Eines Tages, während er in seiner japanischen Uniform eine schmale Dorfstraße entlanglief, schoss ihm jemand in den Rücken. Vermutlich war dieser Jemand ein antijapanischer Widerstandskämpfer. Kleiner Onkel starb alleingelassen auf dieser abgelegenen Dorfstraße, was unserer Großmutter eine kaum zu verkraftende Trauer zufügte.
Großmutters Leben war überwiegend von Kummer und Einsamkeit geprägt. Es waren ihr nur wenige echte Glücksmomente vergönnt. Ihr einziger Sohn verließ bereits im Alter von 13 Jahren sein Zuhause, um in der Großstadt Shenyang die Schule zu besuchen, worauf er später zum Studium nach Tianjin, Japan und zuletzt nach Deutschland ging. Lediglich während der Sommerferien kam er sie besuchen, und auch das mit den Jahren immer seltener, da ihn seine Studien weiter von der Heimat weggeführt hatten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland schloss er sich der Revolution an und führte ab da ein Leben in ständiger Verfolgung, stets auf der Flucht, und rastete nur noch im Verborgenen. Nach dem Mukden-Zwischenfall im Jahre 193123 zog meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern und dem Kleinen Onkel nach Peking, welches damals noch den Namen Beiping hatte24. Später dann, als sie langsam in die Jahre kam und Vater mit uns im Krieg auf der Flucht war, wurde sie häufig krank und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Sie hat ihren einzigen Sohn bis zu ihrem Tode nie mehr wiedergesehen.
Meine beiden Tanten waren wohlauf, nachdem sie geheiratet hatten. Die ältere von beiden, Tante Chi Jinghuan, welche wir „Vierte Tante“ nannten, entsprechend ihrer Stellung in der Familie, folgte ihrem Mann Shi Zhihong nach Japan. Sie durfte dort sogar studieren, denn sie war eine wirklich intelligente und zudem sehr mutige junge Frau. Ab 1933 organisierte mein Vater den antijapanischen Widerstand in Nordchina und führte diesen dann einige Jahre lang an. Seit dieser Zeit bis kurz vor dem Sieg im Antijapanischen Krieg 1945 hat Vierte Tante regelmäßig Untergrundkämpfer am Bahnhof von Peking und anderen Treffpunkten abgeholt oder verabschiedet. Jedem dieser Mitglieder des Widerstands stellte sie sich mit ihrer Tarnbezeichnung als „Kusine“ vor. Nach einiger Zeit, als sie für das Bahnhofspersonal schon ein bekanntes Gesicht darstellte, trat einer von ihnen an sie heran und fragte: „Wie kommt’s denn, dass Sie so viele Vetter haben?“ Natürlich wusste man, dass an der Sache etwas faul sein musste, da damals jedoch alle eine Abneigung gegen die Japaner hegten, mochte niemand sie denunzieren. Zudem hielt sie meist auch noch einen Säugling im Arm und verteilte äußerst diskret Geschenke zu Neujahr und an anderen wichtigen chinesischen Feiertagen. Jahre später auf Taiwan sprachen etliche dieser „Vettern“, denen ich begegnete, noch gern über meine Vierte Tante. – Ihre Erzählungen waren voller Dankbarkeit und Bewunderung für diese tapfere Frau. Ich teilte ihre Empfindungen, denn als der Große Krieg ausbrach, waren die Ehemänner beider Tanten gezwungen, das von den Japanern besetzte Peking zu verlassen, da sie schon früh an antijapanischen Aktionen teilgenommen hatten. Also flohen sie gemeinsam mit uns nach Chongqing, wo sie tragischerweise binnen kurzem schwer erkrankten und dann verstarben, während die beiden Tanten und ihre sieben Kinder bei unserer Großmutter in Peking blieben. Sie kümmerten sich redlich weiter um ihre Mutter, bis sie im Alter von 64 Jahren an Krebs verstarb.
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