Mit einiger Anstrengung und einem leisen Stöhnen erklomm der Mann die Einstiegsstufe des Busses. Unbedarft zeigte er dem Chauffeur sein Ticket und warf einen Blick in den Fahrgastraum. Nur einige Fahrgäste saßen auf den dunkelgrauen plastiküberzogenen Sitzen. Im hinteren Bereich saßen einige Schüler, die sich vor einem jungen Mädchen betont cool gaben. Der ganz normale Wahnsinn wie in jedem Bus. Als Vivian an der Reihe war, zog sie ihr Portemonnaie aus ihrer kleinen Handtasche und kaufte sich eine Fahrkarte bis zur Endstation. Da sie nicht wusste, wann ihre Zielperson den Bus wieder verließ, wollte sie auf der sicheren Seite sein.
Sie durchquerte den Mittelgang und bewegte sich selbstbewusst an ihrer Zielperson vorbei weiter nach hinten. Seinen Sitz hatte er im vorderen Teil des Fahrzeugs gefunden. Sie setzte sich etwas weiter hinten in das Fahrzeug auf einen freien Sitz auf der gleichen Seite. Um sie zu entdecken, müsste er schon den Kopf um hundertachtzig Grad drehen. Vivian versuchte sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, aber das Adrenalin pumpte in großen Mengen durch ihre Blutbahn. Wenn der alte Mann sie entdecken würde, müsste sie wieder einiges erklären. Allerdings schien der potenzielle Agent nicht weiter auf seine Mitfahrer zu achten. Vivian erfuhr währenddessen einige Beachtung durch die jüngeren Fahrgäste im hinteren Teil. Das junge Mädchen hatte sich Kopfhörer aufgesetzt und achtete nicht weiter auf die Sprüche der Gleichaltrigen. Diese hatten sich jetzt Vivian ausgesucht, um ihre Versuche anzubringen.
Es dauerte nur einige Sekunden bis einer der Testosterongesteuerten Jünglingen mit tausenden Pickeln anfing sie zu bezirzen. Vivian wollte ihn, ohne großes Aufsehen, wieder loswerden, um ihre Zielperson nicht auf sie aufmerksam zu machen. Sie entschied sich für einen besonderen Auftritt dem jungen Gegenüber. Sie bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick und ließ ihn auf seiner Körpermitte einige Sekunden verweilen. Dann setzte sie ein kleines Lächeln auf, beugte sich zu seinem Ohr und flüsterte ihm zu, »Nächstes Jahr, wenn du volljährig wirst, darfst du mich gerne nochmal ansprechen. Ich habe immer Bedarf an neuen Sklaven, die mein Leben finanzieren und sich für ein Leben entscheiden, dass ihnen das Abspritzen verbietet. Wann wirst du denn volljährig?«
Der Junge machte ein erschrockenes Gesicht und verzog sich sofort wieder zurück zu seinen Kollegen. Vivian lächelte, denn kurz darauf begann das Getuschel unter den Jugendlichen auf den hinteren Sitzplätzen. Diese kurze Ansage hatte ausgereicht, um dem Jugendlichen klarzumachen, dass er nicht das geringste bei ihr zu suchen hatte. Das hatte sie in einigen Jahren bereits gelernt. Den jungen ging es nur darum eine hübsche Frau ins Bett zu bekommen. Wenn man ihnen aber direkt klarmachte, was sie mit ihr erwarten würde, verzogen sie sich. Wenn es hieß, nicht mehr ejakulieren zu dürfen, zog sich ihre vergrößerte Libido sofort zurück und versteckte sich. Der Funk unter den Jugendlichen erledigte dann den Rest, denn keiner hatte daran ernsthaftes Interesse. Selbst, wenn konnte er sich im Kreise seiner Freunde nicht leisten darauf anzuspringen.
Die Linie des Busses führte immer weiter aus der Innenstadt von Portland hinaus. Die Häuser an der Straße wurden deutlich kleiner und die Menschen weniger. Ihre Zielperson einige Reihen vor ihr schaute verträumt aus dem Fenster. Immer mehr Grün tauchte an der Straße auf und die großen Bürotürme der Innenstadt verschwanden hinter ihnen im Abgasnebel. Auch die Abstände zwischen den Haltestellen wurden immer größer. Vivian warf einen Blick auf den Streckenverlauf, der als Diagramm über ihr hing. Die Anzeige auf dem Monitor im vorderen Teil hinter dem Fahrer zeigte ihr, dass sie nur noch einige Haltestellen bis zur Endstation hatten.
Erst als die vorletzte Haltestelle auf der Route angesagt wurde, machte sich ihre Zielperson bereit auszusteigen. Sie waren in einer ziemlich spärlich besiedelten Vorstadt angekommen. Die kleinen Häuser am Straßenrand waren allesamt in einem eher erbärmlichen Zustand. Die Farbe der Fassaden war verblasst oder hing schon in langen Fetzen an den Behausungen herunter. Vivian konnte sich noch gut an diese Art zu leben erinnern. Auch sie war erst seit ihrer Ausbildung langsam aus so einer Gegend in die Stadt geflüchtet. Ihre Wohnung war zwar auch nicht gerade eine Mansarde in einem angesagten Viertel der Stadt, aber zumindest war sie ruhig und doch zentral gelegen. Sie hatte sogar den Vorteil eine U-Bahn-Station in ihrer Straße zu haben. So brauchte sie bis in die Innenstadt nur einige Minuten.
Als der Bus anhielt und ihre Zielperson mit einem unsicheren Schritt auf den schmutzigen Asphalt das Fahrzeug verließ, schickte sie sich auch an das Vehikel zu verlassen. Der alte Mann beachtete sie nicht, als er sich in die entgegengesetzte Richtung des Busses auf den Weg machte. Vivian blieb einige Sekunden verwirrt an der Bushaltestelle stehen und sah ihm unsicher hinterher. Das konnte beim besten Willen kein Agent des SNB sein. Trotzdem musste sie an ihm dranbleiben. Der Weg sollte nicht umsonst sein und sie wollte zumindest in Erfahrung bringen, wer das war und was er damit zu tun hatte.
Sie folgte ihm noch eine ganze Weile in sicherem Abstand zu einem verwildert aussehenden Haus in einer schrecklich aussehenden Straße. Immer wieder musste der Alte vor ihr eine kurze Pause einlegen, um den Weg zu überstehen. Er war nicht mehr wirklich so fit auf den Beinen und brauchte die Pausen wohl um Luft zu holen. Das Haus, auf das er zusteuerte, war von einem alten verrosteten Zaun umgeben und die Büsche im Vorgarten schienen seit Jahrzehnten nicht mehr zurückgeschnitten worden zu sein. Sie ragten meterhoch vor der beigen Fassade auf, die einmal in Weiß gestrichen wurde. Der alte Mann zog seinen Schlüssel aus der Tasche seines Anzugs und betrat das Haus. Vivian sah ihm von weitem zu. Das Sideboard, was sie im Flur stehen sah, war genauso abgetakelt wie der Anzug, den ihre Zielperson trug.
Vivian entschied sich nach wenigen Minuten ihrer Zielperson zu folgen und lief an seinem Briefkasten vorbei. Ein Name war nicht darauf vermerkt, aber es lagen einige Briefe darin. Vorsichtig sah sie sich um und als niemand zu sehen war griff sie sich einen der Briefe auf dem die Adresse angegeben war. Auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle sah sie sich den Namen des Empfängers an. Das Schreiben war an einen Curtis Chase adressiert. Das war also der Name des Agenten, den sie verfolgt hatte. Während sie auf ihre Fahrgelegenheit in die Stadt wartete, nahm sie ihr Mobiltelefon aus der kleinen Handtasche und schrieb eine Nachricht an ihre Freundin Tiana Nielsen, für die sie diesen Auftrag übernahm. Ihre Freundin sollte am Abend den Namen überprüfen und alles herausfinden, was interessant sein könnte.
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